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Verfilzte Stadt

Ulrike Ottinger inszeniert ihr Paris der Sechziger.

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 4 Min.

Paris ist 1969 mit seinem Hallen-Viertel abgerissen und danach in Plastik wiederaufgebaut worden. Wer heute hinfährt, könnte es glauben. Das Stadtleben wird seit einiger Zeit von der Firma Airbnb simuliert. Umso reizvoller ist es, noch einmal in die Zeit vor 1969 einzutauchen. Das erlaubt eine Ausstellung der vielseitigen Ulrike Ottinger im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Sie meidet die Sentimentalität anderer zeitweiliger Bewohnerinnen von Paris, wie Margarethe von Trotta oder Alice Schwarzer, und lässt ihre Subjektivität immer gerade so weit wuchern, bis sie Sprossen treibt.

Ottingers Paris steht unter dem Zeichen der »Calligrammes«, womit nicht, oder nicht zuerst, die Figurengedichte von Guillaume Apollinaire gemeint sind; Wörter, die Bilder werden. Bei Ottinger verfilzen sich, zum Teil buchstäblich, Begriffe und Bilder miteinander. Ihr »Calligrammes« meint die deutsche Buchhandlung von Fritz Picard in der Rue du Dragon (Drachenstraße). Im ersten Raum oder »Haus« der Ausstellung ist der Laden nachgebaut, mit dem Unterschied, dass in seinem Schaufenster nun nicht vor allem deutsche, sondern französische Titel ausliegen, nämlich diejenigen, die Ottinger geschätzt hat: Antonin Artaud, Michel Leiris, etliche andere. Picard kannte Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Else Lasker-Schüler, bei ihm ging Franz Jung ein und aus. Mitte der Sechziger trug sich auch die Ottinger in sein Gästebuch ein. Bei Picard erlebte sie Lesungen unter anderem von Tristan Tzara, sie spürte, dass sich ihre Welt »explosionsartig erweitert«.

Damals bewohnte sie eine Dienstmädchen-Mansarde, von der aus sie einen prächtigen Blick auf die Mai-Unruhen hatte, auch wenn sie gelegentlich ihr Fenster abdichten musste, damit ihr nicht das Tränengas in die Augen steigt. Es sind die Schocks dieser politischen Erfahrung, welche sich auf ihren Pop-Art-Gemälden niederschlagen, die vor einigen Jahren im Neuen Berliner Kunstverein (n. b. k.) zu sehen waren. In »Paris Calligrammes« erscheinen diese grellen, oft ebenso grausamen wie ironischen Bilder als Nachbildungen in Stoff, vor allem Flokati und Filz. Filz, Filzverarbeitung, Filzkleidung spielt im ethnografischen Filmwerk der Ottinger eine enorme Rolle; die Mongolei, die sich auf den Filz versteht, war von Kindheit an einer ihrer Sehnsuchtsorte. In den prächtigen Arbeiten der Ausstellung ist der Filz nicht das, was wärmt, sondern was abkühlt, nicht ein flaches, sondern ein sich wölbendes Material, aber wie schon im Film eine Verflechtung von manchem mit anderem, von vielem mit vielem. Der Krieg, vor allem der in Vietnam, ist das hervorstechende Thema auf diesen Bildern, aber Ottinger zeigt auch Mäuse im Labyrinth und sich selbst. Einige Porträts von Persönlichkeiten, die sie inspiriert haben, hat sie daneben gehängt; den Dichter Allen Ginsberg als Onkel Sam oder Weihnachtsmann und die Tänzerin Valeska Gert mit cooler Sonnenbrille.

Was haben sie mit Paris zu tun? Nun, in Paris traf sich alles - um in alle Himmelsrichtungen davonzufahren. Paris war und ist eine Hauptstadt der Ethnografie, das hat seine hässliche kolonialistische Vorgeschichte, aber auch seine anregenden und kritischen Aspekte. Ein bitter-komischer Höhepunkt ist das Gespräch mit dem Meister des ethnologischen Films, Jean Rouch, der erläutert, weshalb Tarzan partout ein Weißer sein musste, der Schwarze umbringt.

Im selben Raum oder »Haus« hängen die ethnografischen Algerien-Fotos des Soziologen Pierre Bourdieu, bei dem Ottinger studiert hat, neben den spektakulären Aufnahmen von Ré Soupault aus dem »Quartier réservé« im Tunis der 30er Jahre, also dem Viertel der Prostituierten und Deklassierten. Soupault, eine Künstlerin, die fast so vielseitig war wie Ottinger, die mit dem legendären Viking Eggeling filmisch experimentiert, am Bauhaus gearbeitet und Mode entworfen hat, ist neben Gert die einzige Heldin Ottingers in dieser Ausstellung.

Aber Frauen kommen im dritten »Haus« vor, das dem Kolonialismus gewidmet ist. Zu sehen ist dort unter anderem ein erst in jüngerer Zeit entstandener Film, der einen Friseursalon am Gare du Nord zeigt. Dreadlocks werden geflochten, lange Haarschöpfe ausgekämmt. Die Nähe zur Filzverarbeitung, zur Ethnografie ist hergestellt und eine Brücke in die Gegenwart geschlagen. Auch die Ladenpassage Grand-Cerf gibt es ja noch immer, es ist eine von denen, über die Walter Benjamin philosophiert hat. Im Haus der Kulturen der Welt wird sie in einen Gang projiziert, wirkt dadurch hoch und weit, vor Ort erscheint sie eher wie eine Puppenstube »made in Hongkong«. So ist mit dieser Ausstellung allen, denen Paris fad geworden ist, noch einmal vor Augen geführt, was diese Stadt hätte gewesen sein können.

Ulrike Ottinger: Paris Calligrammes. Eine Erinnerungslandschaft. Haus der Kulturen der Welt, Berlin, bis 13. Oktober. Montags Eintritt frei. Es gibt ein Begleitprogramm mit Filmen und Gesprächen.

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