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Vom Soldaten zum Pazifisten
Wilhelm Simonsohn war als Soldat am deutschen Überfall auf Polen beteiligt. Seine Erlebnisse machten ihn zum Pazifisten. Heute begleitet er seine Enkel zu »Fridays for Future«.
Wilhelm Simonsohn zeigt auf ein »Planet Earth«-Banner, das vor seinen Rollator gebunden ist. Das Foto hat sein Enkel geschossen: Simonsohn, damals 97 Jahre alt, auf einer Demonstration gegen den G20-Gipfel 2017 in Hamburg teil. Es verwundert angesichts des Banners nicht, dass ihn eine aktuelle Entwicklung besonders freut: »›Fridays for Future‹ ist ein Tritt in den Hintern unserer etablierten Parteien«, findet er. Kürzlich hat er sich, mittlerweile als 99-Jähriger, an den Protesten sogar selbst beteiligt - gemeinsam mit seinen Töchtern, Enkeln und Urenkeln. »Es war ein seltenes Bild, wie wir mit vier Generationen auf dem Hamburger Rathausmarkt saßen.« Der wahrscheinlich älteste Demonstrant musste nicht lange überredet werden, für den Abschied von fossilen Brennstoffen auf die Straße zu gehen.
Der Bundestag hat an Esprit verloren
Simonsohn, der am 9. September 100 Jahre alt wird, ist ein politischer Mensch. Wenn er zu Hause ist, hört er sich die Debatten des Bundestags im Fernsehen an. »Mein Leib- und Magensender ist Phoenix. So kann ich live dabei sein«, sagt er. Der 99-Jährige leidet an einer Augenkrankheit und ist fast komplett erblindet. Bücher und Zeitungen kann er nicht mehr lesen. Was er aber aus dem Plenarsaal zu hören bekommt, vermittelt ihm ein Wissen, über das seine Zwillingstöchter Cornelia und Barbara staunen, wenn sie mit ihm wie so häufig über aktuelle politische Themen diskutieren. Dass zu Zeiten des SPD-Politikers Herbert Wehner mit mehr Esprit und auf höherem Niveau debattiert wurde, sei nicht zu leugnen, so Simonsohn. Doch die Neugierde auf die Argumente der Volksvertreter, mögen sie auch noch so dröge vorgetragen werden, hat Simonsohn, parteipolitisch ein Wechselwähler, zeitlebens nicht verlassen.
Bis ins hohe Alter war Wilhelm Simonsohn lange erstaunlich drahtig. »Doch nun macht mein Fahrgestell nicht mehr mit«, sagt er lapidar. Die 28 Stufen bis zur Haustür sind ihm zum Hindernis geworden. Der zunehmend Gebrechliche bekommt bald einen Treppenlift, um in seiner Wohnung bleiben zu können, in der er seit 57 Jahren lebt.
Doch wer den fast 100-Jährigen erlebt, ist beeindruckt, wie präzise er sich erinnert und am politischen Geschehen teilnimmt. Besuche bei diesem angenehmen Gesprächspartner in Hamburg-Bahrenfeld können mehrere Stunden dauern, nur unterbrochen von seiner gelegentlichen Frage: »Ich langweile Sie doch nicht, oder?« Sein Erzähltalent macht ihn zu einem begehrten Zeitzeugen, der in Schulklassen immer noch regelmäßig aus seinem unglaublichen Leben berichtet.
Beschimpft als »Judenlümmel«
Mit zwei Jahren wurde er - ein Waisenkind - vom Kohlenhändler Leopold Simonsohn adoptiert, der nach den Nürnberger Rassengesetzen der Nazis Jude war, obwohl er zum Christentum übergetreten war und deutschnational dachte. Wilhelm wusste lange nicht, dass sein Adoptivvater Jude war. Er war in die Marine-Hitlerjugend eingetreten, die er 1936 verließ, weil er dort als »Judenlümmel« beschimpft worden war. »Noch heute versetzt es mich in Erstaunen, dass ich als 15-Jähriger so handelte«, so Simonsohn heute.
Die Schüler, denen er das erzählt, sind etwa so alt, wie er es damals war. Besucht er die Geschwister-Scholl-Stadtteilschule im Hamburger Hochhausviertel Osdorfer Born, sagt der Gast den Schülern zur Einleitung: »Ich hatte nicht das Format der Geschwister Scholl, deshalb sitze ich hier vor Ihnen.« Die Widerstandskämpfer der »Weißen Rose« sind für Simonsohn ein Vorbild, sie sind fast der gleiche Jahrgang wie er. Der Zeitzeuge berichtet nicht nur aus seinem Leben, sondern ermuntert die Schüler, sich für Europa und die Demokratie zu engagieren. Bei vielen Schülern der »Fridays for Future«-Generation macht das großen Eindruck. Eine 15-Jährige - sie war mit 1,80 Metern ähnlich groß wie er, erinnert sich Simonsohn - kam nach der Unterrichtsstunde zu ihm und sagte: »So einem Menschen wie Ihnen bin ich noch nie begegnet.« Der Zeitzeuge bilanziert: »Es sind diese kleinen Glücksgefühle, die mein Leben noch lebenswert machen.«
Als Anerkennung seines unermüdlichen Einsatzes für die Demokratie wurde Wilhelm Simonsohn im August das Bundesverdienstkreuz verliehen. Bei der Zeremonie, die im Turmzimmer des Rathauses stattfand, ließ Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) in seiner Rede auch die kritische Einstellung des Geehrten zu Einsätzen der Bundeswehr im Ausland nicht unerwähnt. »Es geht mir über die Hutschnur, wenn ich höre, dass unsere Freiheit am Hindukusch verteidigt wird«, so Simonsohn. Durch seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg wurde er zum Pazifisten. »Je mehr Abstand ich zu dieser Zeit und zu mir selbst habe, desto mehr verstärkt sich diese Einstellung.«
Hatte der 19-jährige Simonsohn beim Einmarsch auf Polen noch Revanchegefühle gegenüber den Gegnern des Ersten Weltkriegs gehegt, bekam seine deutsch-nationale Einstellung am 28. September 1939 einen ersten Knacks, wie er sagt.
Er hatte das zweifelhafte Vergnügen, mit einem Motorrad ins zerstörte Warschau zu fahren. »Der penetrante Geruch der menschlichen Leichen und der Kadavergeruch der Pferde haben mir das Elend eines Krieges erst so richtig ins Bewusstsein gebracht. Ich fühlte mich auf einen Schlag zehn Jahre älter.« Simonsohn, der später als Nachtjäger eine Ju 88 fliegen sollte, schwor sich: »Ich werde nie Bomben auf menschliche Siedlungen werfen!« 20 000 Tote gab es durch das Bombardement Warschaus, hauptsächlich Zivilbevölkerung, viele Frauen und Kinder. Drei Jahre dauerte seine Pilotenausbildung, weit weg von allen Fronten. Die angehenden Piloten waren ein »wertvolles Humankapital«, das auch Wünsche äußern konnte. Simonsohn bewarb sich als Nachtjäger, um deutsche Städte vor den Bombardierungen der Alliierten zu schützen und konnte sein sich selbst gegebenes Versprechen halten. Den 8. Mai 1945 empfand der Soldat als Befreiung, er war erleichtert, dass der Zweite Weltkrieg mit der deutschen Kapitulation zu Ende ging, dass »das Morden nun endlich ein Ende gefunden hatte«.
Die NATO - notwendig oder ein Übel?
Im Frühjahr 2012 hatte Wilhelm Simonsohn mit Altkanzler Helmut Schmidt wegen seines Pazifismus eine kleine Meinungsverschiedenheit. »Ich bezeichnete die NATO ihm gegenüber als notwendiges Übel. Schmidt entgegnete, er würde den Schwerpunkt auf ›notwendig‹ setzen.« Der Altbundeskanzler hatte Simonsohns Biografie »Ein Leben zwischen Krieg und Frieden« gelesen und den neun Monate Jüngeren zum Gespräch eingeladen. Schmidt sei gar nicht arrogant gewesen, wie es ihm häufig nachgesagt wurde. Der Staatsmann aus Hamburg-Langenhorn wollte vom Gast aus Bahrenfeld wissen, wie er zu dem Nachweis seiner »arischen Abstammung« gekommen sei, obwohl er seinen leiblichen Vater nie kennengelernt hatte. »Ich konnte ihm vom Besuch im Altonaer Gesundheitsamt erzählen, wo sogar mein Kopf vermessen wurde!« Das amtsärztliche Gutachten bescheinigte ihm, dass keinerlei Anzeichen für einen »nicht arischen Einschlag« bestünden.
Diese Begebenheit war vor einigen Monaten auch Thema im japanischen Fernsehen. Japanische Journalisten hatten Simonsohn mit der Kamera zu mehreren Schauplätzen seiner Kindheit und Jugend begleitet. Die Interviews mit ihm waren Teil einer Dokumentation, die das öffentlich-rechtliche Fernsehen während des Staatsbesuches von Angela Merkel im Februar sendete. Das japanische Kamerateam filmte ihn unter anderem bei einem Besuch auf dem Friedhof, wo seine 2005 verstorbene Frau Liesel begraben liegt. Es ist, wie Simonsohn mit trockenem Humor bemerkt, ein »Angeberfriedhof« im vornehmen Hamburg-Nienstedten. Das Familiengrab ist dort, weil sein Großvater ein vermögender Glasfabrikant war. In Japan sorgte weniger das schöne Nienstedten als der Grabstein für Aufsehen, den Wilhelm Simonsohn dort, versehen auch mit seinem Geburtsdatum 9. September 1919, hat aufstellen lassen. »Mein Enkel ist mit einer Japanerin verheiratet und lebt in Yokohama. Seine Schwiegereltern sahen den Film. Er hat sie beeindruckt.«
Seit Langem faszinieren ihn Thermische Solarkraftanlagen, die den steigenden Energiebedarf der Weltbevölkerung ohne klimaschädliche Emissionen decken könnten. 1982 hatte Simonsohn mit Ehefrau Liesel zum ersten Mal mit einem Reisemobil die Sahara von Tunis nach Agadir durchquert. Er gewann eine Vorstellung davon, wie die Kraft der Sonne dort den Menschen helfen könnte. »Das ist ein Steckenpferd von mir. Technisch ist das heute längst möglich, und ich wünsche mir sehr, dass meine Enkel es bald erleben«, so Wilhelm Simonsohn. Ende 2009 schrieb er einen Brief an die »Sehr geehrte Frau Dr. Merkel«. Die Bundeskanzlerin bat er darin, sich politisch für den Bau von Solarkraftwerken in der Sahara einzusetzen. In Hamburg-Bahrenfeld ist bislang noch kein Antwortschreiben aus dem Kanzleramt eingegangen. »Zur Beantwortung des Briefes ist Frau Merkel bisher noch nicht gekommen«, formuliert es Wilhelm Simonsohn nüchtern.
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