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Spahns Einflüsterer
Ilja Seifert hält nichts von dem »Reha- und Intensivpflegestärkungs-Gesetz« des Bundesgesundheitsministers
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) lässt sich gern etwas einflüstern. Und wenn es seiner neoliberalen Kosten-Nutzen-Ideologie entspricht, gibt er dem Geflüster einen wohlklingenden Namen und posaunt es laut in die Welt hinaus. Diesmal also ein »Reha- und Intensivpflegestärkungs-Gesetz« (RISG). Im Namen der Heimlobby behauptet der Minister, Kosten im Gesundheitswesen sparen zu wollen. Über alle Medienkanäle lässt er erklären, dass Angehörige Pflegebedürftiger zukünftig kaum noch zur Mitfinanzierung der Pflege herangezogen würden.
Das ist gut für entfernt lebende Kinder. Die pflegenden Angehörigen entlastet es jedoch nicht. Ebenso wenig diejenigen, die auf pflegende Assistenz angewiesen sind. Ihnen rauben Teile des Gesetzentwurfs den Atem. Und zwar lebensbedrohend. Zumindest in ihrer selbstbestimmten Lebensgestaltung. Denn auch mit intensivem Pflege-Assistenzbedarf und 24-Stunden-Beatmung kann - und will! - man selbstbestimmt leben. Sei es in der Familie oder mit persönlicher Assistenz.
Der Gesundheitsminister meint aber, dass so »schwere Fälle« zukünftig nur noch in »spezialisierten Einrichtungen« untergebracht werden dürften. Intensivpflege und Beatmung sind teurer. Da könnte ja in Privathaushalten Missbrauch betrieben werden. Dann schanzen wir diese Gelder doch lieber den Heimkonzernen zu. Die sind schließlich über jeden Zweifel erhaben.
Allerdings gibt es dann keine 1:1-Assistenz mehr. Die Rede ist von 1:3- bis zu 1:10-Schlüsseln. Angeblich lauter hoch spezialisiertes Personal. Das kommt aber nicht die Nase putzen, wenn sie läuft, sondern wenn es mal Zeit hat. In einer »spezialisierten Wohngemeinschaft« ist freie Wahl des Tages- und Nachtablaufs unmöglich. Dort regieren die Hausordnung und der Dienstplan. Falls es also tatsächlich irgendeinen Einspareffekt geben sollte, ginge er ausschließlich zu Lasten der dort auf unmündige Patienten reduzierten Menschen, die ihr Leben gern mit selbst ausgesuchten Assistenten gestalten würden.
Die Veröffentlichung seines RISG-Entwurfs brachte Spahn zum Tag der offenen Tür den Besuch von über 100 Menschen mit Behinderungen ein - mindestens ein Dutzend von ihnen mit Dauerbeatmung. Es war pure Angst, was uns dort hin trieb. Neben mir stand lange eine Heranwachsende, die von ihrer Mutter und anderen Familienmitgliedern begleitet wurde. Unermüdlich hielten sie ihr selbstgemaltes Plakat in die Höhe: »Nach dem Abitur ins Pflegeheim? Niemals!« Die junge Frau bereitet sich also - obwohl sie 24-Stunden-Beatmung braucht - auf eine akademische Laufbahn vor. Ganz selbstverständlich. So, wie andere Menschen ihres Alters auch. Nun befürchtet sie, von Spahns Einflüsterern zur Beute ihrer Raffgier gemacht zu werden.
Einer öffentlichen Debatte mit uns Demonstranten wich der Minister feige aus. Stattdessen sonderte er abgeschirmt einige Beruhigungsworte ab. Angeblich verstünden wir alles falsch. Und außerdem sei noch nichts beschlossen. Wenn da einige Demonstranten - mit Blick auf den unmittelbar bevorstehenden 80. Jahrestag des Hitlerschen »Gnadentod-Erlasses« (1. September 1939) - in Todesangst geraten, wiegelt der Minister mit der Bemerkung ab, dass eine 36-monatige Übergangsfrist »gewährt« werden könne. Wir befürchten jedoch, dass die Heimbetreiber und Anbieter stationärer Pflege diese Zeit brauchen, um ihre Kapazitäten an »besonderen Wohnformen« auszubauen. Diese müssen dann gnadenlos »aufgefüllt« werden. Es sind schließlich hohe »Investitionen«. Diese müssen sich - möglichst schnell - »amortisieren«.
Da muss das Wunsch- und freie Wahlrecht auf Wohnen am selbstgewählten Ort und mit persönlich ausgesuchten Partnern eben zurückstehen. Was scheren uns das Grundgesetz, die UN-Behindertenrechtskonvention oder gar der menschliche Anstand? Wir produzieren lieber funkelnde Hochglanzkataloge, in denen wir unsere menschenfreundliche Philosophie und unser alltäglich aufopferndes Sauberhalten der Beatmungsgeräte propagieren.
Da er nicht mit uns reden wollte, verliehen wir Spahn eine »goldene Luftpumpe«. Und damit seine Zuflüsterer merken, dass wir uns die Luft zum Atmen nicht von einem Selektionsgesetz rauben lassen, stellen wir jetzt jeden Freitag eine Mahnwache vor das Bundesgesundheitsministerium. Wer unsere Existenzängste versteht und sich mit uns solidarisieren möchte, ist herzlich willkommen.
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