Die Rückeroberung der Stadt

Ohne Flächenumverteilung gibt es keine Verkehrswende in Berlin.

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 4 Min.

Statistisch gesehen kommt auf jeden dritten Einwohner Berlins, egal ob Kleinkind oder hochbetagt, ein Auto. 321 Pkw pro Tausend Berliner zählte das Statistische Landesamt Ende 2017. Eine Quote, an der sich seit vielen Jahren gesamtstädtisch kaum etwas ändert. Signifikant zurückgegangen ist der Anteil seit 2009 nur in Pankow (von 315 auf 299) sowie in Lichtenberg (von 322 auf 298), in Tempelhof-Schöneberg und Neukölln stieg die Quote sogar um zwei oder gar vier Prozent.

Das spiegelt letztlich den verkehrspolitischen Stillstand der letzten Jahrzehnte wider. Der Bau der 2015 eröffneten Straßenbahnverlängerung zum Hauptbahnhof wurde vom Senat dazu genutzt, den kleinen Straßenring um die Innenstadt in dem Bereich zweispurig auszubauen. Die Verlängerung des Stadtautobahnrings A100 um etwas über drei Kilometer, die voraussichtlich 2022 eröffnen soll, wird mehr als eine halbe Milliarde Euro kosten.

»Wer Straßen baut, wird Verkehr ernten«, lautet ein geflügeltes Wort unter Verkehrsforschern. Das zeigt auch eine 2009 veröffentlichte Studie der US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Gilles Duranton und Matthew Turner. Obwohl das Straßennetz in den USA zwischen 1983 und 2003 deutlich ausgebaut wurde, nahmen die Staus weiter zu. Ihre Erkenntnis: Mehr Straßen sind kein Mittel zur Bekämpfung von Staus. Denn: »Eine Verdoppelung der Straßen verdoppelt den Verkehr.«

Die Regel funktioniert auch in die andere Richtung. Um durchschnittlich knapp 22 Prozent nahm der Autoverkehr bei Sperrungen bedeutender Straßen in verschiedenen Städten ab, so Forschungen der englischen Verkehrswissenschaftler Sally Cairns, Stephen Atkins und Phil Goodwin. Für einen bereits 2002 veröffentlichten Text hatten sie in über 60 Fällen in mehreren Ländern die Verkehrsflüsse auf den ganz oder teilweise gesperrten Straßen sowie den Ausweichrouten verglichen. Fast immer waren weniger Autos unterwegs als vorher, teilweise sogar auf den Ausweichrouten.

Doch bis heute akzeptieren viele diese inzwischen jahrzehntealten Erkenntnisse nicht. »Es verfehlt den Zweck einer Verkehrswende, blockiert sie sogar, wird der Ausbau des U-Bahnnetzes abgelehnt und stattdessen die Straßen mit Trams verstopft«, behauptet zum Beispiel der Hauptgeschäftsführer des Bauindustrieverbandes Ost, Robert Momberg. Der Stadtplaner Stefan Lehmkühler, der sich beim Netzwerk Fahrradfreundliches Mitte engagiert, widerspricht: »Wir haben das mal für die Leipziger Straße ausgerechnet. Mit nur noch einer Autospur an der engsten Stelle und einer Spur für die Straßenbahn könnte man die Verkehrsleistung pro Stunde und Richtung um 37 Prozent erhöhen auf über 5150 Personen.« Dabei sei die mögliche zwei Meter breite Radspur mit einer Kapazität von weiteren 3500 Personen noch nicht eingerechnet. »Man muss wegkommen von der Berechnung der Fahrzeugkapazität, es geht schließlich um die Anzahl der Menschen, die pro Stunde durchgeschleust werden können«, so Lehmkühler. Angesichts von zehn bis 20 mal höheren Kosten pro Streckenkilometer und deutlich längeren Planungs- und Bauzeiten ist die U-Bahn für eine schnelle Verkehrswende sowieso keine realistische Option.

Widerstand kommt auch von unerwarteter Seite. In Berlin-Kreuzberg hat sich die Initiative »Wrangelkiez Autofrei? Wir wehren uns!« gegründet. Der Aufwand, der den Gewerbetreibenden durch einen autofreien Kiez zugemutet werde, sei untragbar, erklären die Aktivisten. Autofrei bedeute ganz klar auch eine finanzielle Wertsteigerung für den Kiez und dessen Immobilien, heißt es weiter. Es handele sich bei dem vom Bezirk unterstützten Vorhaben um »eine Säuberungsaktion gegen Niedrigverdiener«, so die drastische Schlussfolgerung.

Ein erster Schritt zur Reduzierung des Autoverkehrs ist die Umwidmung von Parkplätzen. Das geschieht in vielen Bezirken schon relativ unbemerkt in kleinen Schritten. Fahrradbügel werden mal auf einem Stellplatz da und auf einem dort montiert. »Die Abstellkapazität pro Autoparkplatz erhöht sich also von einem auf zehn Fahrzeuge«, sagt Lehmkühler. Der übliche Widerstand ist dabei bisher ausgeblieben. »Solange man nicht strikt ideologische Positionen vertritt, wie, dass die Stadt autofrei werden muss, sind die Widerstände auch geringer«, so der Stadtplaner. Seinen Ansatz formuliert er so: »Der Durchgangsverkehr muss auf jeden Fall raus, aber jeder Punkt sollte weiter für Autos erreichbar sein.«

Mit einer festen Parkplatzreduktionsquote möchte die Linksfraktion jedes Jahr neue Freiflächen schaffen, die zum Beispiel für breitere Gehwege oder neues Grün in der Stadt genutzt werden können. Die Grünenfraktion wünscht sich einen Finanztopf für ein Parkplatz-Umwidmungsprogramm, der es den Bezirken ermöglichen soll, Parkplätze in eine »für alle Berlinerinnen und Berliner sinnvolle Nutzung« umzuwandeln. »Das ist Stadtraum, der anders genutzt werden und attraktiv sein kann«, erklärt der Stadtplaner.

Konkret wird schon die Parkraumbewirtschaftung ausgeweitet. Bis September 2020 soll es zum Beispiel im gesamten Bezirk Mitte keine kostenlosen Parkplätze mehr geben.

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