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Wenn du bei sexualisierter Gewalt nicht zur Polizei gehen willst - fünf Tipps

Gerechtigkeit jenseits von Polizei und Gefängnis - wie geht das konkret? Wir haben eine Forscherin und Aktivistin gefragt.

  • Lou Zucker
  • Lesedauer: 7 Min.

Viele Betroffene von sexualisierter Gewalt können oder wollen nicht zur Polizei gehen. Melanie Brazzell forscht zu Gerechtigkeit jenseits von Polizei und Gefängnis und hat als Aktivistin langjährige praktische Erfahrung damit. Wir haben sie gefragt, was man stattdessen tun kann. Fünf konkrete Tipps.

Zur Polizei gehen oder nicht – das ist manchmal keine einfache Frage, vor allem wenn es um sexualisierte Gewalt geht. Einer Studie des Familienministeriums zufolge schalteten nur acht Prozent der Frauen, die schon einmal sexualisierte Gewalt erlebt hatten, die Polizei ein. Viele haben Angst vor den Konsequenzen, vor allem wenn der Täter ihr Partner oder Verwandter ist. Außerdem ist es für Betroffene oft eine reale Sorge, ob sie auf der Wache überhaupt ernst genommen werden – oder ob sie sich Sprüche anhören müssen, wie den des Polizeibeamten, der 2011 die weltweiten «Slutwalk»-Proteste auslöste. In einem Vortrag vor kanadischen Jura-Studierenden hatte er gesagt: «Frauen sollten vermeiden, sich wie Schlampen anzuziehen um nicht zum Opfer zu werden».

Auch können sich Betroffene von sexualisierten Übergriffen nicht darauf verlassen, von der Polizei tatsächlich Hilfe zu bekommen. Im Juni dieses Jahres verschafften sich drei Polizisten aus Mecklenburg-Vorpommern unabhängig voneinander mithilfe ihrer Dienstposition die Telefonnummern von Teenagerinnen (13 bis 16 Jahre alt). Die Mädchen hatten sich als Zeug*innen oder Betroffene von sexualisierten Übergriffen und Drohungen an die Polizei gewandt – und wurden von den Beamten ebenfalls per Whatsapp belästigt und bedroht. In keinem der Fälle kam es zu einer Anklage.

Für mich ist Polizei dazu da, Herrschaftsverhältnisse aufrecht zu erhalten

Besonders Sexarbeiter*innen, queere und nicht-binäre Personen müssen befürchten, von der Polizei nicht ernst genommen zu werden. Für viele Betroffene kommt der Gang zur Polizei auch nicht infrage, weil sie von Abschiebung bedroht sind oder Sorge vor rassistischer Polizeigewalt haben. Erst Ende August wurde ein Geflüchteter in einer Unterkunft in Stade-Bützfleth von einem Polizisten erschossen, vergangenen April kam ein Schwarzer Mann durch das Sicherheitspersonal des UKE in Hamburg ums Leben.

«Für mich ist Polizei dazu da, Herrschaftsverhältnisse aufrecht zu erhalten», sagt Melanie Brazzell, die an der University of California und zu Transformativer Gerechtigkeit forscht - einem Community-basierten Anti-Gewalt-Ansatz von Queers, nicht binären Menschen und Frauen of Color. In Deutschland gab Brazzell dazu ein toolkit für Aktivist*innen heraus und ist Mitbegründerin des «Transformative Justice Kollektiv Berlin».

Doch was wäre die Alternative zur Polizei? Die Wissenschaftler*in und Aktivist*in findet, man sollte niemals die Handlungsmöglichkeiten von Betroffenen einschränken – auch nicht Möglichkeit, zur Polizei zu gehen. Doch Brazzell hat fünf konkrete Tipps, was man bei sexualisierter Gewalt gemeinsam tun kann, wenn man nicht zur Polizei gehen kann oder möchte.

1. Aktionsplan schmieden

Eine Strategie kann sein, mit Freund*innen einen Aktionsplan zu schmieden, bevor man gemeinsam zu einer Party geht: Wie werden wir damit umgehen, wenn jemand begrapscht wird? Was wünscht sich jede*r Einzelne von uns in so einer Situation? Dabei geht es auch darum, die eigenen Fähigkeiten zu Selbstschutz und Selbstverteidigung besser kennenzulernen.

2. Eingreifen

Wenn man Belästigung im öffentlichen Raum beobachtet, ist es oft hilfreicher, sich mit seinen Handlungen auf die Person zu konzentrieren, die gerade Gewalt oder Belästigung erfährt. Die Gruppe «Hollaback London» hat hierzu hilfreiche Strategien erarbeitet. In der U-Bahn kann man kann zum Beispiel erst einmal Augenkontakt zu der betroffenen Person aufbauen und ausloten, ob man die Situation richtig einschätzt: Fühlt sich die Person wirklich unwohl?

Eine einfache Frage stellen: «Weißt du, wie spät es ist?»

Dann kann man versuchen, die Situation zu unterbrechen, in dem man sich neben die betroffene Person setzt oder indem man eine einfache Frage stellt: «Weißt du, wie spät es ist?», «Entschuldigung, ist das die richtige Richtung zu dieser und jener Station?». Auf einer Party könnte man auf die betroffene Person zugehen und sagen, «Hey, deine Freundinnen suchen dich, sie sind im Bad», um ihr einen Vorwand zu geben, die Situation zu verlassen. Danach kann man noch einmal nachfragen: «Wie geht‘s dir? Ist alles ok?

Man kann natürlich auch die gewaltausübende Person direkt konfrontieren, aber die Konsequenzen sind viel schwieriger einzuschätzen. In den meisten Fällen würde ich eher davon abraten.

3. Heilungskreis mit der betroffenen Personen

Für Fälle von sexualisierter Gewalt innerhalb einer Gemeinschaft – zum Beispiel im Bekanntenkreis, in der Politgruppe, etc. – gibt es den Ansatz der Community Accountability (kollektive Verantwortungsübernahme). Geprägt wurde dieser von »INCITE!«, einem US-basierten Netzwerk aus Feminist*innen of Color. Es geht dabei um vier Bereiche: Um Sicherheit und Selbstbestimmung für die Betroffene Person, um Verantwortung und Transformation auf der Seite der gewaltausübenden Person, um Veränderungen im direkten Umfeld und auf politischer, gesellschaftlicher Ebene.

Es ist ein starkes Gefühl, zu wissen: Diese Gruppe von Leuten ist für mich da

In vielen Situationen ist es nur möglich, mit einem oder zwei dieser Bereiche zu arbeiten. Am zentralsten ist da sicher die Arbeit mit der betroffenen Person. In einem Fall haben wir zum Beispiel einen Heilungskreis gemacht, inspiriert von indigenen Gerechtigkeitstraditionen aus Nordamerika. Die betroffene Person konnte dort mit Freundinnen und Genossinnen über die Situation sprechen. Viele aus der Gruppe hatten selbst Erfahrungen mit Sexismus und sexualisierter Gewalt und konnten diese ebenfalls teilen. Man sollte nicht unterschätzen, wie wichtig das Aussprechen von solchen Erlebnissen ist, die Anerkennung von Leid und Schmerz durch eine liebevolle Gruppe. Das ist etwas, was im Gerichtssaal nicht unbedingt passiert. Es ist auch ein starkes Gefühl, zu wissen: Diese Gruppe von Leuten kennt meine Geschichte und ist im Zweifelsfall für mich da.

In Kontexten, in denen so etwas nicht möglich ist, kann man vielleicht ein oder zwei Verbündete suchen und mit ihnen Strategien ausmachen wie etwa: Ich ruf dich immer an, wenn ich die gewaltausübende Person sehe. Oder: Wenn wir die gewaltausübende Person treffen, dann gehen wir gemeinsam aus dem Raum. Man fängt mit kleinen Schritten an, mit dem, was in dem jeweiligen Kontext machbar ist.

Am Ende können wir das Verhalten von Anderen nicht kontrollieren. Aber wir können unsere eigenen Fähigkeiten zusammenbringen und gemeinsam ausbauen.

4. Arbeit mit der gewaltausübenden Person

Der zweite Bereich der kollektiven Verantwortungsübernahme, die Arbeit mit der gewaltausübenden Person, ist sehr komplex. Es gibt da noch Einiges auszuprobieren. Ich kenne Prozesse, in denen eine kleine Gruppe sich regelmäßig mit der gewaltausübenden Person trifft, zum Beispiel einmal im Monat für zwei Jahre, und Gespräche führt, gemeinsam Texte ließt und Berichte an die betroffene Person und ihre Unterstützungsgruppe schreibt. Im Idealfall nimmt eine Person aus dem direkten Umfeld teil und zusätzlich jemand, der oder die Erfahrung mit solchen Prozessen oder mit sozialer oder therapeutischer Arbeit hat.

Isolierung führt oft zu noch mehr Gewalt

Viele Personen, die Gewalt ausüben, haben selbst Gewalt erfahren. Es ist wichtig, Empathie zu lernen – auch sich selbst gegenüber. Meine Forschung zeigt: Gewalt ist ein Brechen von Beziehungen, nicht primär von Gesetzen. Das führt zu Isolierung, Isolierung führt oft zu noch mehr Gewalt. Transformative Gerechtigkeit stellt den Versuch dar, beide Personen, sowohl betroffene als auch gewaltausübende, wieder in ein Netz von sozialen Beziehungen zu bringen. Gerechtigkeit sehe ich so, wie Cornel West, ein wichtiger Schwarzer Theologe & Aktivist aus der US-Bürgerrechtsbewegung es formuliert hat: »Never forget that justice is what love looks like in public«.

5. Schadensbegrenzung

Wenn die gewaltausübende Person nicht bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, geht es um Schadensbegrenzung. Da kommen wir zu harten Konsequenzen, wie beispielsweise die Ansage: Hey, du zeigst keine Bereitschaft, dich mit deinem Scheiß auseinanderzusetzen, du bist hier nicht mehr willkommen bis du das machst. Das könnte zum Beispiel der Fall in linken Räumen oder Wohnprojekten sein. Oder: Du bist hier willkommen, aber du darfst nicht trinken, weil wir wissen, wenn du trinkst wirst du gewalttätig. Ich finde, es ist wichtig, zwischen Konsequenz und Strafe zu unterscheiden. Ich denke, wenn du Gewalt ausübst, das verleugnest, null Verantwortung übernimmst und die Konsequenz ist dann, dass du jetzt nicht mehr in bestimmte Räume reinkommst – das ist nun mal eine Folge deines Verhaltens.

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