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Kleine Wunder, große Party
Retten die migrantischen Arbeiter Katars den Weltmeisterschaften die Stimmung?
Drei Tage lang haben sich alle über die Stimmung im Khalifa-Stadion erregt: nix los, tote Hose, leere Ränge. Da geschieht am Montagabend plötzlich ein kleines Wunder: Die Hochsprungkonkurrenz läuft, für die junge Ukrainerin Jaroslawa Mahutschich sind 2,04 Meter aufgelegt, da wird es auf der Westtribüne laut. Richtig laut: afrikanische Gesänge, rhythmisches Klatschen, grün-gelb-rote Fahnen, kreischende Fans - die Sportlerinnen unten staunen wie auch die Reporter auf der Pressetribüne. »Quiet please!«, bittet der Stadionsprecher. Es wird still, Machukitsch überspringt die Latte und jubelt. Sie hat Silber gewonnen, hinter der »Neutralen Athletin« Maria Lassizkene.
Aber der 5000-Meter-Lauf der Männer steht an - mit drei Äthiopiern im Starterfeld, der Grund, weshalb die Westkurve singt. Viele Fotografen und Kameramänner laufen hinüber, es ist ja eine Premiere: echte Wettkampfatmosphäre! Bisher hatte Doha vor allem reichlich freie Plätze zu bieten, die Sportler sind entsetzt. »Es ist eine Katastrophe, da ist fast niemand auf den Tribünen«, hatte Zehnkampfweltrekordler Kevin Mayer aus Frankreich geklagt. Er würde die WM boykottieren, wenn er den Sport nicht so lieben würde.
Heute aber macht der Äthiopienblock Party. Auf die Frage, woher denn plötzlich all die Fans kämen, sagt Lina, eine junge Frau aus Addis Abeba, die in der Villagio-Mall neben dem Stadion arbeitet: »Wir wurden eingeladen. Die Botschaft hat auf Facebook dazu aufgerufen: Kommt! Die Tickets sind frei, die Busse zum Stadion auch. So sind wir hergekommen. Jetzt feiern wir.« Dann zückt sie wieder ihr Handy und filmt sich inmitten ihrer Landsleute.
»Uuu-uuh-uhhh Ethiopia«, singt der Fanblock, während unten ihre Landsleute Selemon Barega, Telahun Haile Bekele und Muktar Edris am Start stehen. Unten wird geschwitzt - hier oben lachen sie und umarmen sich. Sonst schleppen sie Säcke über staubige Baustellen, wischen die Marmorfußböden der Einkaufszentren blank oder kutschieren für Uber die Expats, ausländische Fachkräfte, in Kias und Nissans durch die City. Dieser Abend aber gehört ihnen - Katars hart ausgebeuteten Arbeitern.
Das Rennen läuft, die Laune steigt, und 12:58,85 Minuten später sind Lina und ihre Leute aus dem Häuschen: Edris gewinnt im Sprint vor seinem Teamkollegen Barega, Bekele wird Vierter. 1000 Äthiopier kreischen, ohrenbetäubend. »Wir haben gewonnen. Äthiopien, Äthiopien!«, ruft Lina in ihr Handy.
Auf den Bänken neben dem äthiopischen Block sitzen gelangweilt etwa 100 junge Männer in roten T-Shirts. Kaum einer guckt zu, einige unterhalten sich, einer ist eingeschlafen. Als nun ein paar die Tribüne verlassen wollen, werden sie von zwei Sicherheitsleuten in den Thawb genannten weißen Gewändern zurückgescheucht. Die jungen Männer lachen verschmitzt. »Ja, wir müssen noch sitzen bleiben«, sagt einer von ihnen augenzwinkernd. Er heißt Abdel Aziz, ist Katarer, 18 Jahre alt und mit seinen Kommilitonen der National Security Academy hierher gekommen. Gefällt ihm die WM? Er zögert: »Ja, ein bisschen schon, aber die Fußball-WM, die wird gut!« Wie viele Studenten denn heute gekommen seien? »Viele, um die 900, guck, da drüben, in den grünen Shirts! Die gehören auch zu uns.«
Das Stadion ist tatsächlich ziemlich gut gefüllt am vierten Wettkampftag. Am Vorabend war die Leichtathletikwelt in einen Schockzustand versetzt worden, weil sich nur 2000 Menschen auf den Rängen verloren, als Shelly-Ann Fraser-Pryce die 100 Meter gewann. Wer dagegenrechnet, dass bei der WM 2000 Athleten antreten, die Trainer und Betreuer dabeihaben, und dass auch noch allerlei Familienmitglieder mitgereist sind, könnte konstatieren, Katar und seinen Bewohnern sei die Leichtathletik egal. Das Organisationskomitee räumte am Montag ein, am Sonntag sei das Stadion unter 50 Prozent ausgelastet gewesen, weil an diesem Tag die Arbeitswoche in Doha begonnen habe. Am Freitag und Samstag habe man aber 67 beziehungsweise 70 Prozent gehabt. Genauere Zahlen sind nicht zu erfahren, eine nd-Anfrage beim Organisationskomitee blieb unbeantwortet.
Im Stadion wird es derweil wieder laut: Diesmal im benachbarten Block, in dem die Kenianer ihre Fahnen schwenken. Auch sie sind von ihrer Botschaft via Facebook eingeladen worden. Jetzt ist ihre Zeit gekommen, denn Beatrice Chepkoech inszeniert ein irres 3000-Meter-Hindernisrennen. Die 28-jährige Weltrekordlerin läuft dem Feld auf und davon und gewinnt in 8:57,84 Minuten vor der US-Amerikanerin Emma Coburn, die 4,51 Sekunden nach ihr ins Ziel kommt. Auf Rang drei bejubelt Gesa Felicitas Krause die erste deutsche Medaille. Erst in der letzten Runde hat sie zwei Konkurrentinnen eingeholt, und zudem den deutschen Rekord verbessert: 9:03,30 Minuten. Deutsche Expats sind im Publikum nicht auszumachen. Ein Transparent der TuS Bismark grüßt »Team Germany« vom Tribünenrand.
Man erinnert sich an die WM in Berlin 2009. Auch damals blieben Plätze im Olympiastadion leer, auch damals tricksten die Veranstalter: Die vermeintlichen 74 413 Zuschauer beim 100-Meter-Finale, derer man sich rühmte, waren einfach aus Morgenveranstaltung (23 300) und Nachmittagsveranstaltung (51 113) addiert worden. Die legendären 9,58 Sekunden von Usain Bolt haben vieles vergessen lassen.
In Doha geht derweil das Stadionlicht aus, die Lasershow beginnt für den abschließenden Höhepunkt: Karsten Warholm gewinnt den 400-Meter-Hürden-Lauf in 47,42 Sekunden, der für Katar startende Abderrahman Samba holt in 48,03 Sekunden Bronze. Samba ist in Mauretanien geboren, er hat die erste Medaille für die Gastgeber geholt. Dohas Äthiopier und Kenianer kennen ihn nicht. Sie brechen auf. Als Samba seine Ehrenrunde beendet hat, ist das Stadion fast leer. 2,7 Millionen Menschen leben in Katar, aber nur 300 000 Katarer. Auch im Khalifa-Stadion wird einem diese Tatsache vor Augen geführt.
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