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Erst Beschneidung, dann Boykott
Folge 150 der nd-Serie »Ostkurve«: Das Leipziger Fußballderby zwischen Lok und Chemie wird von einer folgenschweren Entscheidung der Sicherheitsbehörden getrübt.
Fußballfans und Sicherheitsbehörden - in dieser unendlichen, durch zahlreiche Auseinandersetzungen geprägten Geschichte wird dieser Tage in Leipzig ein neues Kapitel geschrieben. Dort soll am Sonntag (Anstoß: 13 Uhr) die 103. Auflage des berüchtigten Stadtderbys zwischen der BSG Chemie und dem 1. FC Lok steigen. Allerdings wird dem Schauspiel die dazu passende Kulisse fehlen: Weil auf Anordnung der Polizei nur 250 Lok-Fans im Leutzscher Alfred-Kunze-Sportpark zugelassen worden waren, entschieden diese, das Derby gleich komplett zu boykottieren. »Der Gästeblock beim Derby bleibt leer«, teilte der Verein mit.
Es war ein Beben der Ernüchterung, das die Leipziger Fußballwelt erfasste. Für beide Seiten fühlte es sich an, als habe die Polizei das Derby bereits im Vorfeld entschieden, ja sogar zerstört. »Natürlich steht die Sicherheit bei allen Veranstaltungen im Vordergrund. Allerdings sollten keine Horrorszenarien heraufbeschworen werden«, ließ der 1. FC Lok verlauten. »Schließlich fanden über Jahrzehnte viele Duelle statt, bei denen noch lange nicht die Sicherheitsstandards der heutigen Zeit galten.« BSG-Vorstandschef Frank Kühne fügte hinzu: »Mich ärgert und enttäuscht die Gangart und die damit verbundene Beschneidung des Leipziger Fußballs.« Das geschieht nicht zum ersten Mal: Bereits beim Sachsenpokalduell im Dezember 2018, das Lok in Leutzsch 1:0 gewann, ordnete die Polizei aus Sicherheitsgründen eine Reduktion des Gästekontingents an, die Lok-Fans boykottierten auch diese Partie.
Normalerweise stehen Gästefans 10 Prozent der Eintrittskarten zu. Bei einem Fassungsvermögen des Alfred-Kunze-Sportparks von 4999 Plätzen hätten also 500 Lok-Anhänger nach gewöhnlicher Regelauslegung dort Platz gefunden. Bei vorherigen Derbys im »Leutzscher Holz« waren sogar 750 zugelassen worden. Doch die Polizei bestand auf einer Abweichung von der Regel und drückte diese auch in den Sicherheitsberatungen durch. Was dort hinter den Kulissen geschah, lässt sich im Rückblick nur erahnen. Sicher ist, dass Vereine und Behörden grundsätzlich unterschiedliche Ansichten von Fußballkultur vortrugen und keinen gemeinsamen Nenner fanden. In seltener Einigkeit versuchten Chemie und Lok, die Polizei zum Umdenken zu bewegen - ohne Erfolg. Die Behördenvertreter blieben stur.
Möglicherweise spielte ein Zwischenfall in der jüngeren Vergangenheit bei der Sicherheitsbewertung eine Rolle: Vor knapp einem Monat trug Chemie Leipzig beim befreundeten Verein Eintracht Frankfurt (1:5) ein Benefizspiel aus, um Spendengeld für die Kampagne »Flutlicht für Leutzsch« zu sammeln. 100 000 Euro kamen zusammen. Auch im Leipziger Bruno-Plache-Stadion fand an diesem Abend ein Fußballspiel statt, der 1. FC Lok verabschiedete dabei seinen langjährigen Kapitän Markus Krug. Am Morgen danach kam es an einem S-Bahnhof zu einer Schlägerei unter Fußballfans. Die genauen Vorkommnisse sind unbekannt, da die Beteiligten der Polizei entwischten. Vermutet wird aber ein Überfall von Lok-Fans auf Chemie-Anhänger, die aus Frankfurt zurückgekehrt waren - als Vergeltungsaktion für einen früheren Angriff der »Chemiker«.
Nun also bleibt die Gästetribüne leer. Die Lok-Fans verzichten gänzlich auf das spärliche Kontingent und werden sich das Spiel stattdessen im heimischen Stadion in Probstheida auf einer Leinwand anschauen.
Dabei ist das 103. Stadtderby nicht irgendeines von vielen, es findet fast genau auf den Tag 30 Jahre nach einem wahrlich historischen Ereignis der ostdeutschen Geschichte statt: Am 9. Oktober 1989, zwei Tage nach dem 40. Jahrestag der Gründung der DDR, gingen in Leipzig mindestens 70 000 Menschen gegen die SED-Staatsführung auf die Straße. Die ungeheure Wucht des Protests zwang die überraschten Sicherheitskräfte, die vorherigen Versammlungen stets restriktiv und mit massiven Verhaftungswellen begegnet waren, erstmals zum Rückzug und somit zur Preisgabe ihrer Macht - ein Wendepunkt innerhalb der politischen Wende. Die »Heldenstadt« war geboren - ein Begriff und ein Mythos, der sich seitdem in der Leipziger DNA festgesetzt hat, freilich gefördert aus Marketingzwecken.
Die beiden Vereine durchlebten in der Folge unruhige Zeiten, geprägt durch Namensänderungen, wirtschaftliche Schwierigkeiten, sportliche Abstürze und den Versuch der Rückkehr in den hochklassigen Fußball. Andererseits: Für viele Fans waren sie trotz eigener Probleme Anker in einer Phase tiefgreifender Umbrüche. Doch welche Rolle spielten Chemie und Lok eigentlich vor exakt 30 Jahren, zu Zeiten der Großdemonstrationen?
Der gerade als bestes Fußballbuch des Jahres 2019 ausgezeichnete 500-Seiten-Wälzer »125 Jahre. Vom VfB zum 1. FC Lokomotive Leipzig. Die Geschichte des Ersten Deutschen Meisters« der Autoren und Lok-Fans Thomas Franke, Marko Hofmann und Matthias Löffler beschäftigt sich am Rande auch mit den Ereignissen des Herbstes 1989. Es war eine Zeit, in der die Probstheidaer, die in den Jahren zuvor international für Aufsehen gesorgt hatten, langsam an Bedeutung verloren. Ausgerechnet in der Saison 1989/90 waren sie erstmals seit neun Jahren nicht mehr auf europäischer Bühne vertreten. Allerdings, mutmaßen die Autoren, »wären solche Spiele im Herbst 1989 sowieso keine Zuschauermagneten gewesen«. Eben weil den Leuten in dieser Zeit andere Dinge wichtiger waren.
Auch für die »Chemiker« stand damals die Politik so hoch im Kurs wie der Fußball. Das Werk »Leutzscher Legende« des Journalisten Jens Fuge gewährt einen Einblick: »Im Land mehrten sich die Stimmen der Unzufriedenen, die ersten gingen für ihre Forderung nach mehr Demokratie auf die Straße. Dabei waren auch die meisten Spieler von Chemie Leipzig. Montags trafen sich viele von ihnen in ihrem Stammtreff in der ›Bierbar‹ in der Nikolaistraße. Von da aus waren es nur ein paar Schritte zur Nikolaikirche, von wo aus sich die ersten Demonstrationen formierten.«
Dieser »Mannschaftsausflug zur Montagsdemo« habe sich Woche für Woche wiederholt, bis zum 9. Oktober. An diesem Tag habe es dann eine deutliche Warnung gegeben: »In Leutzsch gab es eine kurze Zusammenkunft, bei der man den Spielern den dringenden Rat gab, sich an diesem Tag nicht in der Innenstadt sehen zu lassen«, so Fuge. »Trotz der angespannten Lage war der größte Teil der Chemie-Mannschaft gemeinsam mit 70 000 Menschen wieder dabei und beeindruckte mit der bis dahin größten Kundgebung die Machthaber.«
Es war also damals auch ein kleiner Sieg des Fußballs über die Behörden. Wenn sich nun Chemie und Lok am 6. Oktober wiedersehen, könnte man spöttisch hinzufügen, haben die - freilich ausgetauschten - Behörden diesmal schon vor dem Anpfiff den Sieg eingefahren.
Ob sich die Fans von Lok noch ärgern werden, dass sie nicht trotzdem ins Stadion gehen? Immerhin ist ihr Verein der sportliche Favorit. Lok will im Aufstiegsrennen der Regionalliga Nordost weiter mitmischen, Aufsteiger Chemie der Abstiegszone fernbleiben. Die vergangenen Duelle konnten zumeist die favorisierten Probstheidaer für sich entscheiden; seit der Umbenennung in BSG Chemie hat der traditionsreiche Leutzscher Verein in vier Stadtderbys gegen Lok noch kein einziges Tor geschossen. Dafür aber zuletzt einen klangvollen Namen verpflichtet: Elvir Ibisevic, der Cousin des Bundesligatorjägers Vedad Ibisevic, spielt ab sofort für Chemie.
Auf einen anderen namhaften Torjäger müssen die »Chemiker« indes verzichten: Alexander Meier. Chemie-Fans bemühten sich - nicht ohne einen Schuss Selbstironie - unter dem Hashtag AlexMeierfuerLeutzsch und mit einem offenen Brief an den »Fußballgott« um die Verpflichtung des zu dieser Zeit vereinslosen alternden Topstürmers. Allerdings überlegte er es sich anders und zog dem »Leutzscher Holz« einen Wechsel nach Australien vor.
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