- Sport
- Doha
Der alte Mann und das Meer
All die glitzernden Türme, die sie in Doha aus Stahl, Glas und Beton haben bauen lassen, rufen: Zukunft, Zukunft, Zukunft! Doch in ihrer Mitte findet sich ein sentimentaler Platz: Souk Wakif, der alte Markt, den der Vater des jetzigen Scheichs hat errichten lassen - nach seinen Kindheitserinnerungen: mit engen, von Baumwollteppichen überspannten Gassen, in denen es nur Dinge zu kaufen gibt, die es in den Malls nicht gibt, einfaches Alugeschirr aus Indien, Seide aus Shantung, libanesisches Safrangebäck, süße syrische Pfefferminzbonbons, Honig aus Jemen und sogar einheimische Falken (ab 2000 Euro) samt nötigem Zubehör wie Haube (40 Euro) und Handschuh (52 Euro).
In den Gängen riecht es nach Weihrauch und Koriander, WM-Besucher trinken hier Tee und essen türkisches Eis. Die einheimischen Frauen haben Mühe, sie alle zu umkurven: Auf hohen Absätzen, in wallendes Schwarz gewandet, stöckeln sie durch die Massen, verfolgt von einem Hauch schweren Parfüms und einem der traditionellen Marktträger mit all den Einkäufen in der Schubkarre. Am Ausgang des Souks werden die Damen von ihren Männern in riesigen Toyotas abgeholt. Graziös erklimmen sie die Gefährte: achtzylindrige weiße Allradpanzer, neben denen jeder deutsche SUV kümmerlich wirkte.
Wer erfahren will, wie Doha früher wirklich war, vor dem Erdgas-Überfluss, der muss in die Hauptgasse des Souk Wakif gehen, ins Geschäft Nr. 169, zu Saad Ismail al Jassim. Der alte Mann mit dem runzligen Gesicht sitzt auf einem ledernen Bürostuhl hinter dem Verkaufstresen seines Perlengeschäfts und erzählt Besuchern gern von damals. Al Jassim war Perlentaucher, was bis zur Entdeckung von Gas und Öl so ziemlich die Haupteinnahmequelle der Katarer war. »Es gab nur das Perlentauchen, sonst nichts«, sagt der 85-Jährige. »Alle in meiner Familie waren entweder Taucher oder Tauchhelfer.« Mit 15 bekam er wie jeder Junge in Doha die drei Utensilien, die dazu nötig waren: ein Netz, ein Seil und eine Nasenklammer.
»Zwei Minuten musste man die Luft anhalten können. Runter, die Muscheln ins Netz tun, und dann ließ man sich hochziehen. Netz leeren, dann gings wieder runter«, sagt Al Jassim. »Drei Monate lang waren wir manchmal auf dem Wasser, ohne einen Landgang zwischendurch.«
Aber es habe Spaß gemacht, er sei ja sportlich, sagt er und deutet auf das große Schwarz-Weiß-Foto hinter sich. Es zeigt ihn in jungen Jahren: »Ich war der erste Bodybuilder Dohas, mein Junge. Und ich bin immer noch in Form. Hier, leg mal deine Hand unter meinen Oberarm!«, sagt er, und ehe man sich’s versieht, liegt die eigene Hand zwischen seinen Rippen und seinem Bizeps und der Alte spannt die Muskeln an: Autsch!
»Jaja«, lacht er, »ich war Zweiter der Landesmeisterschaften. Bis heute bin ich aktiv, ich lege mich auf Nagelbretter und Glasscherben. Da, sieh nur!« Er zückt sein Handy und startet ein Filmchen, in dem auf seinem Bauch ein Betonklotz zerschlagen wird. »Pahlwan« nennen sie ihn hier: Starker Mann. Auch seinen Laden hat er so genannt. Allerdings gibt es beim ehemaligen Taucher heute keine Doha-Perlen mehr zu kaufen, nur noch welche aus China oder Indien. »Die kaufe ich ein«, sagt Al Jassim. Immerhin tauche er noch, sagt er, jetzt mit Atemgerät. Schon zeigt er das nächste Handyfilmchen: der starke Mann im Neopren.
Was sagt er zur WM im Khalifa-Stadion: »Leichtathletik? Interessiert mich nicht!« Höchstens die Gäste, die hierher kämen, die seien ein schönes Zusatzgeschäft zu jenen 50 000 Riyal, die er monatlich vom Staat erhalte (12 000 Euro). Die Miete im Laden ist frei für ihn, wenn der Scheich in den Souk kommt, schaut er gern beim Starken Mann vorbei. »Er kennt mich, den Taucher.«
Und was macht er bei der Fußball-WM 2022? Die werde er sich im Fernsehen ansehen. Er hoffe, dass die feindlich gesonnenen Nachbarn keinen Krieg anzetteln bis dahin. »Was haben wir denen getan, bei Allah? Die Saudis lassen uns nicht einmal mehr zur Hadsch in ihr Land pilgern. Hoffen wir, dass Frieden bleibt, inschallah!«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.