Folterkammer für Eisenbahnen

Politik und technische Zuverlässigkeit entscheiden über die Zukunft der S-Bahn. Von Nicolas Šustr

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 6 Min.

Manche nennen unsere Anlage eine Folterkammer für Züge», sagt Gabriel Haller. Er ist Leiter des Rail Tec Arsenal im österreichischen Wien, dem größten Klima-Windkanal für Eisenbahnen der Welt. Zu Gast ist derzeit ein Vier-Wagen-Zug der neuen Baureihe 484 für die S-Bahn Berlin, die zusammen mit der Schwesterbaureihe 483, bei der ein Zug aus zwei Wagen besteht, ab 2021 sukzessive auf allen Linien des Ringbahnsystems den Betrieb übernehmen soll. Es könnten deutlich mehr als die bereits fest bestellten 382 Wagen werden. «Wir sprechen in der Koalition über eine Aufstockung der Fahrzeugbeschaffung des Ringbahn-Vertrags um zehn bis 15 Prozent, um die benötigten Fahrzeuge und Leistungen für eine bessere Anbindung des Flughafens BER und für eine Angebotsausweitung auf dem Ring mit Blick auf die wachsende Stadt durch die S-Bahn zu ermöglichen», sagt der SPD-Abgeordnete Sven Heinemann. Das sei nach seinem Verständnis laut EU-Vergaberecht möglich.

Doch so weit ist es noch nicht. Seit dieser Woche muss der Testzug in der 100 Meter langen Wiener Klimakammer eine Menge über sich ergehen lassen. Er wird Temperaturen von minus 25 bis plus 45 Grad ausgesetzt. Dazu kommen noch Starkregen, nasser und trockener Schnee, eine dicke Vereisung wird simuliert genauso wie glühende Sonne. Die Stromabnehmer müssen trotzdem sicher den Kontakt zur Stromschiene halten, Türen und Schiebtritte zuverlässig funktionieren.

Passieren kann noch so einiges anderes. «Die Flüssigkristalle der Anzeiger sind bei extremen Temperaturen kritisch», sagt Gerald Winzer vom Schienenfahrzeughersteller Siemens, der die Züge zusammen mit Stadler Pankow baut. Auch die unter dem Wagenboden montierte Technik kann Schaden nehmen, wenn Eis und nasser Schnee die Lüftungsschlitze zusetzen. «Nicht, dass bei minus 20 Grad die Halbleiter verkochen, weil wir keine Kühlluft mehr haben», schildert Winzer eines der Szenarien.

Und dann gibt es auch erstmals Klimaanlagen. Mindestens 19 Grad Raumtemperatur sollen sie gewährleisten, wenn die Außentemperaturen tiefer liegen. Im Sommer darf es nicht zu heiß werden. Wenn draußen die Luft bei 35 Grad flirrt, muss es drinnen auch bei einem voll besetzten Zug sechs Grad kühler sein. Zu viel Luftzug darf auch nicht entstehen. Das ist durchaus eine Herausforderung, zumal wegen niedriger Tunnel und Brücken die Technik nicht wie üblich auf dem Dach montiert werden kann.

Der Zug ist so gespickt mit 350 Sensoren, dass kaum ein Durchkommen ist. Auf den Sitzen liegen Heizmatten, dazu kommen noch 50 Verdampfer, die zusammen die Wärme- und Feuchtigkeitsabgabe der Menschen simulieren. Jeder Passagier heizt dem Wagen mit 120 Watt ein. «Gerade die feuchte Wärme, die wir abgeben, ist besonders kritisch für die Klimatisierung», erklärt Gabriel Haller, Leiter von Rail Tec Arsenal.

Die Vorbereitung der Fahrzeuge für die Messreihen ist aufwendig. Der Zug ist bereits seit fünf Wochen in Wien, obwohl die noch drei Wochen laufenden Tests gerade erst begonnen haben. «Für eine S-Bahn ist das ein umfangreicher Zeitraum», sagt Haller. So viel Zeit wird meist für Hochgeschwindigkeitszüge angesetzt, die viel größeren Belastungen standhalten müssen. Und es ist auch teuer. Rund 30 000 Euro müssen die Hersteller pro Testtag überweisen. Rund um die Uhr sind zwei Mitarbeiter von Rail Tec Arsenal anwesend, dazu kommt noch ein Projektleiter. Die Hersteller schicken noch einmal deutlich mehr Personal.

«Von der Technik her haben wir bisher keine Defizite gefunden. Wir sind soweit ganz zufrieden», zieht Martin Hoffmann von Stadler ein kleines Zwischenfazit. Die Klimaanlage wurde bisher allerdings noch gar nicht getestet. Die Auswertung der Versuchsreihe soll Ende Januar 2020 vorliegen.

Die Ingenieure bewegen sich im hochpolitischen Bereich. Seit über einem Jahr wird in der Berliner Regierungskoalition über die anstehende Ausschreibung der S-Bahn-Teilnetze der Ost-West-Linien der Stadtbahn sowie der Nord-Süd-Linien gestritten. Die Bahntochter S-Bahn Berlin GmbH soll nicht zu sicher sein, den Zuschlag zu bekommen. Davon erhofft man sich, Monopolpreise zu verhindern. Inzwischen ist es elf Jahre her, dass der Betrieb zusammengebrochen war. Die S-Bahn hatte der Rendite wegen zu viele alte Fahrzeuge verschrotten lassen und die Wartung so weit heruntergefahren, dass der Betrieb nicht mehr sicher gewesen ist.

Man sei schon weit gekommen bei den Gesprächen in der Koalition über die Vergabe, berichtet Sven Heinemann. Nämlich, dass die Beschäftigten sowohl des Betriebs als auch der Instandhaltung zu gleichen Konditionen übernommen werden sollen, wer auch immer den Zuschlag bekommt. Und dass die Frage der Werkstätten verbindlich gelöst sein muss. Zudem soll es so wenige Schnittstellen wie möglich zwischen verschiedenen Betreibern geben.« Es müsse aber »alles unternommen werden, dass möglichst viele weitere Beschäftigte vom neuen Betreiber übernommen werden«, so der Politiker weiter. Dazu gehörten Sicherheitsdienst, Vertrieb und Kundendialog und die Verwaltung. So etwas ist eigentlich nicht im Vergaberecht für den Eisenbahnbetrieb vorgesehen.

Immerhin, auch das ein Ergebnis der Gespräche zwischen SPD, LINKE und Grünen, sollen die Anforderungen an die Fahrzeuge bei der Ausschreibung so sein, dass auch die gerade in der Testphase befindliche Baureihe in einer weiterentwickelten Version eingesetzt werden könnte. Das war lange nicht gewiss. »Gerade jetzt, wo wir sehen, dass die Haushaltsspielräume künftig deutlich enger werden, haben andere Dinge Priorität: Eine schnelle Fahrzeugbeschaffung und der Ausbau des Angebots. Es wäre widersinnig, schon wieder völlig neue Fahrzeugkriterien festzulegen«, erklärt Heinemann.

Da die S-Bahn nicht bereit ist, ihre Werkstätten zu verkaufen, falls ein Konkurrent den Zuschlag bekommt, musste das Land auch neue mögliche Standorte finden. In Französisch Buchholz am Eisenbahn-Außenring und in Waßmannsdorf nahe Schönefeld gehören Berlin Flächen, die prinzipiell geeignet sind. Doch der finanzielle Aufwand wäre enorm. Die Strecke der S75 müsste von Wartenberg zum Karower Kreuz verlängert werden, mit aufwendigen Kreuzungsbauten an bestehenden Bahnstrecken. »Verschiedene grobe Kostenschätzungen für den Bau dieses Anschlusses mit einem Überwerfungsbauwerk liegen zwischen 150 und 350 Millionen Euro. Die Kosten für die Werkstätten sind da noch nicht eingerechnet. Schätzungen dafür gehen von 80 bis 100 Millionen Euro pro Standort aus«, sagt Heinemann. Zumal überhaupt nicht sicher sei, ob das alles, wie benötigt, bis 2026 fertiggestellt sein könnte.

Die schöne Wettbewerbswelt im Regionalverkehr hat tiefe Risse bekommen. Die Sächsische Städtebahn hat im Sommer von einem Tag auf den anderen ihren Betrieb eingestellt. Für zwei Linien der S-Bahn Rhein Ruhr hatte der Verkehrsverbund Ende September, knapp drei Monate vor dem geplanten Betriebsbeginn, den Vertrag mit dem Nahverkehrsunternehmen Keolis Deutschland gekündigt, weil das Unternehmen bis dahin nur etwa die Hälfte der nötigen Lokführer hatte rekrutieren können.

»Die Stabilität des S-Bahnbetriebs ist eine entscheidende Frage der Daseinsvorsorge, vergleichbar mit der einstigen Privatisierung der Wasserbetriebe«, erklärt Heinemann. Bei Vergabe und Fahrzeugbeschaffung geht es um mehr als sechs Milliarden Euro. Am 4. November könnte der Senat nach nd-Informationen die Ausschreibung beschließen.

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