- Politik
- Hartz-IV-Sanktionen
»30 Prozent sind noch viel zu viel«
Sanktionsfrei-Geschäftsführerin Helena Steinhaus über das Urteil zu Hartz-IV-Sanktionen
Wie bewerten Sie grundsätzlich das Verfassungsgerichtsurteil vom Dienstag? Sehen Sie es als einen Schritt in Richtung bedingungslose Grundsicherung?
Absolut ja, ich bin richtig froh und wir sind hier alle in Feierstimmung. Endlich, endlich dürfen die Jobcenter, die Menschen nicht mehr total sanktionieren und damit total ruinieren, sie in die Obdachlosigkeit schicken. Mir fiel geradezu ein Stein vom Herzen, obwohl auch eine 30-prozentige Kürzungsmöglichkeit immer noch viel zu viel ist und abgeschafft gehört. Aber das Urteil verdeutlicht zugleich den unglaublichen Skandal, 15 Jahre mit dieser verfassungswidrigen Sanktionspraxis gelebt haben zu müssen.
Ein durchschnittlicher Hartz-IV-Empfänger, der nicht sanktioniert ist, geht spätestens in der zweiten Monatshälfte, weil sein Portemonnaie leer ist, zur Tafel, um sich überhaupt mit Lebensmitteln versorgen zu können. Dennoch bewertet der Erste Senat in seinem Urteil vom Dienstag, dass erst eine Kürzung des Existenzminimums um 60 Prozent zu weit in das grundsätzlich gewährte Existenzminimum hinein führe. Was sagen Sie dazu?
Die Karlsruher Richter haben in ihren Entscheidungen immer betont, dass nicht nur das physische, sondern auch ein soziokulturelles Existenzminimum gewährleistet sein muss. Die hier vertretene Rechtsauffassung ist ein offener Widerspruch dazu. Alle Regelsätze wurden und werden aus politischen Gründen möglichst klein gerechnet. Was wir brauchen, ist ein ganz neuer Ansatz, ein neues System zur, natürlich sanktionsfreien, Gewährleistung einer realistischen sozialen Teilhabe für alle.
Das Gericht stellt sich mit seiner Rechtsauffassung, Kürzungen des Existenzminimums bis zu 30 Prozent seien durchaus legitim, gegen die Auffassung des DGB sowie von Sozial- und Wohlfahrtsverbänden, wonach Sanktionen grundsätzlich gravierende Verstöße gegen die Menschenrechte sind und nicht zu einer dauerhaften Integration in den Arbeitsmarkt führen.
Da haben Sie recht. Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, dass die unermüdliche Arbeit für eine bedingungslose und Würde bewahrende Grundsicherung nach wie vor absolut notwendig ist. Auch die 30 Prozent Sanktionen sind 30 Prozent zu viel und ein Skandal. Die Grundsicherung muss sanktionsfrei werden und dafür setzen wir uns ein, bis wir es geschafft haben!
Was genau sind eigentlich Ihre Aufgaben als Geschäftsführerin der Organisation Sanktionsfrei?
Neben allgemeinen Verwaltungsaufgaben kümmere ich mich vor allem auch um die Öffentlichkeitsarbeit, die seit dem Urteil vom Dienstag besonders die Beantwortung der Fragen von Journalisten umfasst. Ich spreche aber auch viel mit den von den Sanktionen betroffenen Menschen, stelle den Kontakt zu Anwälten her und versuche, den Betroffenen wieder Mut zu machen und seelischen Beistand zu leisten. Ein wichtiger Bereich meiner Arbeit ist auch die Finanzierung des Vereins, der komplett über Spenden getragen wird. An dieser Stelle möchte ich unseren Dauerspenderinnen und Spendern, den Hartzbreakern, von ganzem Herzen danken!
Apropos Finanzierung: Haben Sie schon mal bei der Götz-Werner-Stiftung für Unterstützung angefragt? Die Stiftung finanziert seit Mai einen ganzen Lehrstuhl an der Uni Freiburg, der die Umsetzung des Bedingungslosen Grundeinkommens erforscht?
Ja, die Stiftung gewährt uns für unser zweites wichtiges Kernstück, dem HartzPlus Projekt, eine großzügige Unterstützung. Mit diesem einmaligen bundesweiten wissenschaftlichen Experiment, durchgeführt vom Wuppertaler Institut für Unternehmensforschung und Organisationspsychologie, wollen wir herausfinden, wie es sich auf die Menschen auswirkt, wenn sie drei Jahre nicht unter dem Druck, mögliche Sanktionen vom Jobcenter erleiden zu müssen, stehen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.