Partei der Wende oder Partei der Wessis

Grüne nehmen Kurs auf Koalition mit SPD und CDU - und täuschen tiefe Verwurzelung in der DDR-Opposition vor

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 5 Min.

Na klar, das musste kommen am

9. November. Die Landesvorsitzende Petra Budke sagt am Sonnabend beim Grünen-Landesparteitag in der Stadthalle Bernau weihevoll: »Wir feiern heute 30 Jahre Mauerfall. Das ist gerade für uns Bündnisgrüne mit unseren tiefen Wurzeln in der DDR-Bürgerbewegung wichtig.« Viele, auch sie selbst, wären heute gar nicht hier ohne dieses historische Ereignis, erinnert Budke. Das stimmt. Budke stammt aus dem Westen wie so viele Parteifreunde im Landesverband. Es sollen mal die aufstehen, so ermuntert die Vorsitzende, »die 1989 dabei waren«. Aber das sind peinlich wenige. Es ist offensichtlich nicht weit her mit der Verwurzelung in der DDR-Bürgerbewegung geschweige denn in der DDR. Zehn Jahre lang waren Ostdeutsche in der brandenburgischen Landtagsfraktion der Grünen schwach vertreten. In der neuen Fraktion sieht es immerhin etwas besser aus.

Aber Marianne Birthler spricht. Sie gehörte zur DDR-Opposition, die allerdings klein war, wie sie zugibt. 1990 wurde Birthler in Brandenburg Bildungsministerin für Bündnis '90 in einer Koalition mit SPD und FDP. Doch 1992 trat sie aus Protest gegen die Stasi-Verstrickung des Ministerpräsidenten Manfred Stolpe (SPD) zurück. In den Jahren 2000 bis 2011 war sie Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen.

Gerade hat der Landtag beschlossen, dass Abgeordnete noch bis ins Jahr 2030 hinein Stasi-Überprüfungen erdulden müssen. 2009 wurde die Linksfraktion beim Start einer rot-roten Koalition wegen der Stasi-Vergangenheit einiger Abgeordneter angefeindet. Nun hat sie soweit bekannt keine Stasi-Fälle mehr in ihren Reihen.

Stattdessen erben die Grünen einen alten Stasi-Fall. Michael Luthardt, 2009 bis 2014 Abgeordneter in der Linksfraktion, ist zu den Grünen übergegangen. Er rückt nun gemeinsam mit der parteilosen Journalistin Carla Kniestedt in den Landtag nach, wenn die übrigens aus Westdeutschland stammenden Fraktionschefs Axel Vogel und Ursula Nonnemacher in der neuen Koalition der Grünen mit SPD und CDU Minister werden.

Luthardt sitzt in Bernau am Tisch des Parteitagspräsidiums gleich neben dem Rednerpult, an dem Marianne Birthler steht. Er leistete einst seinen Wehrdienst beim Wachregiment »Feliks Dzierzynski«, das dem DDR-Ministerium für Staatssicherheit unterstand. Das wurde ihm 2010 angekreidet. Die damals noch von Marianne Birthler geleitete Stasi-Unterlagenbehörde teilte dazu erst nicht mit, dass Luthardt eine anschließende Stasi-Tätigkeit als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) ausdrücklich abgelehnt hatte. Dabei war das aktenkundig. Erst als Luthardt darauf hinwies, bestätigte die Stasi-Unterlagenbehörde das, setzte aber gehässig hinzu, vielleicht habe er später doch noch eine Verpflichtungserklärung unterschrieben, die nicht erhalten sei. Gerettet hat den Forstwissenschaftler Luthardt damals, dass Grünen-Fraktionschef Axel Vogel, der ihn aus dem Landesumweltamt persönlich kannte, seine Hand für den Abgeordneten ins Feuer legte. Luthardt ist wegen seiner Zeit beim Wachregiment nichts vorzuwerfen. Das sollten die Grünen jedoch nicht allein in diesem Fall erkennen. Sie sollten auch mit anderen Biografien fair umgehen. In einer Enquetekommission des Landtags zur Aufarbeitung der Vergangenheit haben die Grünen vor Jahren gezeigt, dass sie keinen blassen Schimmer davon haben, wie das Leben in der DDR wirklich gewesen ist.

Die Stimmung auf dem Parteitag ist übrigens ausgezeichnet. Die Grünen freuen sich gewaltig, in Brandenburg endlich wieder mitregieren zu dürfen. Das zeigt sich schon in der S-Bahn nach Bernau, in der Delegierte die zehn Landtagsabgeordneten der Grünen im Geiste auf die Ausschüsse verteilen und Pläne schmieden für die Berliner S-Bahn, die im brandenburgischen Umland künftig überall alle zehn Minuten verkehren sollte. Als langfristiges Ziel steht die Taktverdichtung im Koalitionsvertrag mit SPD und CDU. Doch wie sehr ist diesen Parteien zu trauen? Einer erzählt in der S-Bahn - für die Mitreisenden vernehmbar - eine Begebenheit aus den Koalitionsverhandlungen. Nationales Roaming soll gegen Mobilfunklöcher auf dem Lande helfen. Wenn das Netz des eigenen Anbieters nicht verfügbar ist, soll das Mobiltelefon des Kunden ohne Aufpreis in ein Netz der Konkurrenz wechseln dürfen. Auf einen Satz dazu im Koalitionsvertrag einigten sich SPD, CDU und Grüne in ihren Verhandlungen. Doch die zunächst noch vertrauliche Information landete umgehend bei Lobbyisten. Ein Verhandler der Grünen fand in den kommenden zwei Tagen E-Mails von zwei Telekommunikationsfirmen, die ihm erklärten, was für ein Teufelszeug nationales Roaming angeblich sei. Er sei fassungslos, wie schnell das durchgestochen wurde, erzählt er in der S-Bahn. »So viel zum Thema Vertrauen.« Dabei sei er der Meinung, dass die Koalition nur erfolgreich sein könne, wenn die drei Parteien vertrauensvoll miteinander umgehen. Sonst gebe es Stillstand wie im Bund.

Die Grünen loben sich, wie viel sie in den Verhandlungen erreicht haben. Wenig war es tatsächlich nicht für eine 10,8-Prozent-Partei. Aber für Anhänger der Grünen enttäuschende Kompromisse mussten doch gemacht werden, erinnert Kim Stattaus, Grünen-Fraktionschef im Bernauer Stadtparlament. »Liebe Trauergemeinde, wir haben uns hier versammelt, um von der Opposition Abschied zu nehmen«, hatte Stattaus zuvor unter dem Beifall der Delegierten gewitzelt. Doch er bleibt nicht der einzige, der vor zu viel Euphorie warnt.

»Nein, das ist natürlich keine hundertprozentig grüne Agenda«, gibt die designierte Sozialministerin Ursula Nonnemacher zu. »Aber wie sollte es auch anders sein, wenn drei Parteien ihre Programmatik berücksichtigt sehen wollen?«

Ob die Grünen den Koalitionsvertrag unterschreiben, das entscheidet nicht der Parteitag. Darüber befinden in einer Urwahl die 1942 Mitglieder im Bundesland, die am Stichtag 21. Oktober der Partei angehörten. Inzwischen zählt der wachsende Landesverband 1953 Mitglieder im Bundesland. Das Ergebnis der Urwahl soll am 18. November verkündet werden. Der Parteitag gab am Sonnabend lediglich eine Empfehlung ab. Demnach rieten nach dreistündiger Debatte 79 Delegierte, dem Koalitionsvertrag zuzustimmen und 15 Delegierte waren dagegen. Drei enthielten sich der Stimme.

Ursprünglich neigten die Grünen zu einer rot-rot-grünen Koalition. Die wäre rechnerisch knapp möglich gewesen. Doch die SPD wollte eine Koalition mit einem Polster von ein paar Stimmen mehr.

Bernaus Bürgermeister André Stahl (LINKE), der beim Grünen-Parteitag ein Grußwort spricht, findet es aber gar nicht verkehrt, wenn sich seine eigene Partei in der Opposition von ihrer Wahlschlappe erholen kann. Sie ist in zehn Jahren Rot-Rot von 27,2 Prozent über 18,6 Prozent auf 10,7 Prozent abgestürzt. Die LINKE sei »personell ausgelaugt, politisch verarmt«, bedauert Stahl. Wenn die LINKE aus ihrem Tief herauskommt, könnten LINKE und Grüne vielleicht was zusammen machen, hofft Stahl. In Biesenthal und in Bernau hat er als Bürgermeister mit den Grünen nach eigener Auskunft gute Erfahrungen gemacht. Dann verabschiedet sich Stahl. Seit 16 Jahren feiert er am 9. November, denn sein Sohn hat an diesem Tag Geburtstag.

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