Connewitzer Graffiti-Krieg

Wie die Debatte über vermeintlich linksextreme Straftäter den Fokus weg von den eigentlichen Problemen in einem Leipziger Stadtteil lenkt

  • Aiko Kempen
  • Lesedauer: 5 Min.

Lachend blickt Ina* auf die frischgestrichene graue Wand, hinter dem Basketballkorb. Sie ist nicht mehr ganz so grau und nicht mehr ganz so frischgestrichen. »Das hab ich wirklich gefeiert«, sagt sie.

Die kleine Mauer des Streetballplatzes am Connewitzer Kreuz ist längst zum Sinnbild für den Konflikt zwischen Sachsens Sicherheitsbehörden und dem linksalternativen Leipziger Viertel Connewitz geworden. »Antifa Area« verkündete dort bis vor wenigen Tagen ein großflächiges Graffito. Den Zusatz »No Cops« ließ das Rathaus seit 2017 insgesamt 16 mal entfernen. Als der Schriftzug immer wieder erneuert wurde, standen im Herbst 2017 plötzlich Polizisten vor dem Basketballplatz Wache, die sonst bei Terroranschlägen im Einsatz sind. Man sei nicht nur wegen des Graffitos dort, erklärte ein Polizeisprecher damals.

Am Mittwoch den 6. November verkündeten Sachsens Innenminister Roland Wöller und Justizminister Sebastian Gemkow (beide CDU) den Start einer neuen Sonderkommission gegen Linksextremismus mit dem Fokus auf Leipzig – der Soko Linx. Am Freitagmorgen war das Antifa-Graffito verschwunden, die Wand grau.

Noch vor dem Nachmittag prangte in anderthalb Meter großen Buchstaben der Schriftzug »ACAB« (all cops are bastards) auf der grauen Wand. Ina kann über diesen Grafittikrieg der anderen Art nur grinsen. »Die können das überstreichen, das wird immer wiederkommen«, sagt sie. Seit drei Jahrzehnten lebt sie in dem Viertel im Süden von Leipzig. Sie kann Geschichten erzählen von Zeiten, in denen Fassaden noch unsaniert, viele Häuser noch besetzt und Konflikte mit Neonazis, die sich an dem linken Biotop störten, Alltag waren. Seitdem hat sich viel verändert. Die alten Fassaden sind saniert, junge Familien prägen das Bild, Wohnraum ist knapp und begehrt. Und er wird immer teurer.

Wenn Ina aus ihrem Küchenfenster sieht, blickt sie auf eine Baugrube, die bis vor kurzem ein Stadtteilgarten und ein beliebter Kneipenfreisitz war. Ein Projektentwickler baut dort 40 Eigentumswohnungen, beworben als Immobilieninvestment »für Kapitalanleger und Eigennutzer«. An einem Sonntagabend Anfang November verletzten zwei Vermummte die Prokuristin der Immobilienfirma in ihrer Wohnung mit Faustschlägen. Laut Polizeisprecher verließen sie die Wohnung mit den Worten »Schöne Grüße aus Connewitz«. Drei Tage später verkündeten Sachsens Sicherheitsspitzen die neue Soko Linx, versprachen »hartes und konsequentes Vorgehen« und eine »Null-Toleranz-Politik«. Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) sagte, er fühle sich an die RAF erinnert.

»Das war eine absolute Scheißaktion, da muss man nicht drüber diskutieren«, sagt Ina über den Angriff auf die Prokuristin. Dass die Aktion von ihrem Viertel ausging, mag Ina allerdings nicht glauben. Damit ist sie nicht allein. Wen man auch fragt, ob junge Männer und Frauen in schwarzen Outdoorjacken, die mit Bierflaschen in der Hand vor Spätis stehen, ob Zugezogene oder Alteingesessene, sie alle geben dasselbe Urteil: Scheißaktion – und kontraproduktiv für die Situation in Connewitz. Seit Tagen ist die Polizei in dem Viertel präsent. Streift man in den Nachtstunden durch das »Bermudadreieeck«, das am Connewitzer Kreuz beginnt, dauert es meist nur wenige Minuten, bis ein Polizeiauto im Schritttempo vorbeirollt.

Natürlich fühle er sich durch die gestiegene Polizeipräsenz kriminalisiert, sagt Mati. Die Familie des Mittvierzigers lebt in dritter Generation in Connewitz. Wenn er vor dem Basketballplatz am Connewitzer Kreuz steht, kann er er einmal im Kreis mit dem Finger zeigen, wo er aufgewachsen ist, getauft wurde, zur Schule gegangen ist, studiert hat und wo er heute wohnt. Er ist genervt von der Entwicklung in dem Gebiet, das er Heimat nennt. Auch wenn das für ihn, der sich als links versteht, ein komischer Begriff sei. Er sei bereits von Bereitschaftspolizisten mit Maschinenpistolen kontrolliert worden, wenn er vom Nachtdienst kam, erzählt er.

Zugleich ist er genervt von der wachsenden Aggression im Viertel. Dass über dem frischgesprühten »ACAB« zwischenzeitlich der Schriftzug »Bullen jagen« hinzugekommen ist, ärgert ihn. Die Situation werde sich weiter hochschaukeln, sagt er. Diese Meinung teilt er mit Sachsens Polizeipräsident Horst Kretzschmar, der die steigende Zahl linkspolitischer Straftaten mit einer erhöhten Polizeipräsenz in Connewitz erklärte. Am letzten Oktoberwochenende steckten Unbekannte mehrere Baustellenabsperrungen in Brand und bewarfen die Polizei mit Flaschen und Steinen. Mit Blick auf die neue Soko Linx rechnet Kretzschmar für die Zukunft mit weiteren »Resonanzstraftaten«.

Worin sich Ina und Mati einig sind: Die Debatte um linke Gewalt und Connewitz als kriminelle Hochburg lenkt den Fokus weg von den eigentlichen Problemen und engagierten Akteuren im Viertel. Menschen wie die LINKEN-Landtagsabgeordnete Juliane Nagel, die in Connewitz ihr Büro hat, warnen: »Mit dem aktuellen hysterischen Diskurs über linke Gewalt wird versucht, linke Politik mundtot zu machen.« Auch sie befürchtet, dass dadurch der Blick weg vom eigentlichen Problem gelenkt werde – »Luxusneubauten und Verdrängung«.

Am Reformationstag organisierten Anwohner eine spontane Stadtteilversammlung vor einem weiteren großen Neubauprojekt in Connewitz, brachten den Schriftzug »Niemand hat die Absicht, Luxuswohnungen zu errichten« über dem Bauzaun an. Binnen kürzester Zeit stand eine Hüpfburg mitten auf der Straße, Kinder spielten daneben Torwandschießen. Wenige Tage später bestimmt der Hausbesuch bei der Immobilienfrau die Schlagzeilen zum Thema Connewitz – die Behörden setzten mittlerweile eine Belohnung von 100.000 Euro für Hinweise auf die Angreifer und die Täter eines Brandanschlags auf eine Leipziger Baustelle im Oktober 2019 aus. »Wo gab es so einen Aktionismus mal bei rechter Gewalt?«, sagt Ina.

Was tatsächlich von Sachsens neuer Soko gegen Linksextremismus zu erwarten ist, scheint fraglich. Kritiker merkten an, die Minister hätten lediglich zehn Beamte öffentlichkeitswirksam von A nach B versetzt. Einen Zusammenhang mit seiner geplanten Oberbürgermeisterkandidatur in Leipzig bestritt Justizminister Gemkow bei der Pressekonferenz zur Soko Linx. Juliane Nagel befürchtet, dass es nicht beim Übermalen von Graffiti bleibt, sondern sich die angekündigten Maßnahmen gegen gesellschaftliches Engagement gegen hohe Mieten richten werden.

Mati erzählt, er habe in den letzten fünf Jahren zwei Mieterhöhungen erhalten. Die nächste Erhöhung wäre sein Abschied aus Connewitz.

*Name geändert

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