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  • Anschlagsserie in Neukölln

»Betroffene glauben der Polizei nicht mehr«

Die Opferberatung Reach Out kritisiert, dass die rechte Anschlagsserie in Neukölln noch immer nicht aufgeklärt ist

  • Philip Blees
  • Lesedauer: 6 Min.

Im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses ging es jüngst erneut um die rechte Terrorserie in Neukölln. Hat die Parlamentssitzung für Sie neue Erkenntnisse zutage gefördert?

Ja, es ist schlimmer als erwartet.

Im Interview

Über die Perspektiven der Betroffenen der rechtsextremen Terrorserie in Berlin-Neukölln sprach mit Helga Seyb von »ReachOut« für »nd« Philip Blees. Die Opferberatungsstelle »ReachOut« berät seit vielen Jahren Opfer von rechtsextremer, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Berlin. Die Angriffe werden von der Organisation in einer Chronik dokumentiert.

Inwiefern schlimmer?

Im Fall des Linksparteipolitikers Ferat Kocak wurde deutlich, dass die Polizei Informationen zu seiner Gefährdung hatte, die sie nicht genutzt hat, um ihn zu warnen. Diese Informationen hatte sie schon ein Jahr vor dem Anschlag. Das macht aus Sicht der Betroffenen keinen Sinn. Wenn es einen Bericht gibt, den sie nicht nutzen können, stellt sich die Frage, warum die Polizei die Hinweise überhaupt erhalten hat. Ich verstehe, dass Aktivitäten des Verfassungsschutzes geschützt werden müssen. Das hätte die Beamt*innen aber nicht dran hindern müssen, potenzielle Täter*innen anzusprechen und ihnen klarzumachen, dass man über ihre Planung Bescheid weiß.

Was schlussfolgern Sie als Beraterin, die Opfer von Gewalttaten unterstützt, daraus?

Potenzielle Opfer können nicht mit Schutz durch die Behörden rechnen. Das erschüttert zusätzlich. Es wird gesagt, dass keine verwendbaren Hinweise zur Prävention existieren - das ist definitiv falsch. Den Betroffenen bleibt nur die Hoffnung, dass es für sie weiterhin glimpflich ausgeht. Dass das Haus von Ferat Kocak beim Brandanschlag auf sein Auto nicht in Mitleidenschaft gezogen worden ist, war wohl eher ein Zufall als die Folge von guter Polizeiarbeit.

Dass die Behörden und Verantwortlichen Fehler zugeben, ist doch schon mal ein erster Schritt.

Also ich sehe keine Schritte in Richtung Aufklärung. Wir haben jetzt erfahren, dass die Polizei erhebliche Daten sammelt, und viele Aktivitäten entfaltet. Die Frage ist natürlich: Sind es die Richtigen?

Sind es denn die Richtigen?

Wie so oft stellt sich die Frage, ob die Polizei überhaupt mit den richtigen Ermittlungsthesen loslegt. Ich habe den Eindruck, sie entwickeln irgendwelche Aktivitäten ohne Sinn. Sie sagen, dass ein Handy beschlagnahmt wurde und allein dort müssten 190 000 Datensätze analysiert werden. Dafür habe die Behörde keine Kapazitäten. Das ist meines Erachtens aber dummes Zeug. Nicht alle Daten müssen analysiert werden. Sie halten sich mit Dingen auf, die gar nicht wirklich wichtig sind, und meinen, uns damit beeindrucken zu können.

Es passiert aber noch mehr …

… wobei sie sich in Widersprüche verstricken. Sie sagen, dass es ihnen an Personal mangelt. Gleichzeitig erzählen sie uns, dass sie zu viel davon haben - wie es gerade passt. Als es in der Presse hieß, es gäbe Informationen zum Hintergrund des Mordes an Burak Bektaş im Jahr 2012, wurde gesagt, dass der Informant unter 26 000 Angestellten nicht zu ermitteln sei.

Das Thema steht bei der Polizei immerhin auf der Agenda.

Ich sehe nicht wirklich eine neue Qualität in ihrer Arbeit. Am Ende des Tages gibt es keine Aufklärung - und das schon seit vielen Jahren. Jetzt werden wir mit der polizeilichen Aufbauorganisation FOKUS vertröstet, die sich alle diese Fälle noch mal angucken soll. Im Dezember will sie einen Bericht liefern. Dort arbeitet allerdings niemand Unabhängiges. Fehler, die gemacht wurden, können nicht analysiert werden, wenn nur die eigenen Kolleg*innen kontrollieren.

Was müsste sich ändern?

Die Betroffenen wünschen sich, dass ihre Anregungen ernst genommen werden. Die Forderung ist: Hört darauf, was die Betroffenen sagen, als eine Konsequenz aus dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU). Und die Betroffenen wünschen sich einen Untersuchungsausschuss.

Berücksichtig der Senat die Betroffenenperspektive also zu wenig?

Die Listen, die Nazis führen oder geführt haben über ihre Gegner*innen werden heruntergespielt. Die Polizei tut so, als gebe es dadurch keine Gefährdungslage. Sie können nicht beurteilen, was die Leute erleben. Einen Zusammenhang mit diesen Listen können sie nicht erkennen.

Was läuft in Ihren Augen noch falsch?

In Bezug auf Ferat Kocak wurde gesagt, dass der Name bei der Überwachung der potenziellen Täter phonetisch nicht erkannt werden konnte. Das ist völlig verrückt. Das bedeutet, dass sich bei der Polizei Ermittler*innen nicht zusammensetzen und sich jenseits von zu analysierenden Datensätzen mal darüber unterhalten, wie man unterschiedliche Buchstabenfolgen eingeben kann. Das ist ein Blick auf ihre Arbeitsweise. Ernsthaftigkeit sehe ich da nicht.

Wie gehen die Betroffenen damit um?

In Neukölln sind sie sehr erschüttert. Betroffene glauben der Polizei nicht mehr. So wurde im Innenausschuss gefragt, ob es Ermittlungen gegen Betroffene gegeben hat. Dies wurde verneint. Definitiv ist es aber so, dass es Ermittlungen gegen den Ehemann einer Betroffenen gab.

Jetzt gibt es eine Petition für einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss.

Genau, das fordern wir auch in Bezug auf den NSU. Dort wird immer gesagt, das sei unnötig, da es keinen NSU-Mord in Berlin gab. Deswegen soll es hier kein Problem geben? Weil es keinen Mord gab? Es gibt definitiv Dinge, die auch hier genauer untersucht werden müssen.

Die Koalition will immerhin bald einen unabhängigen Polizeibeauftragten einsetzen.

Der wird in diesem Fall keine Lösung sein. Das ist dann eine Beschwerdestelle - vielleicht mit Kompetenzen. Das wird nicht der Untersuchung von schon Geschehenem dienen. Deswegen fordern Betroffene den Untersuchungsausschuss. Den braucht es, um noch mal andere Informationen aus der Analyse von Akten und Vorladungen von Zeug*innen zu erhalten.

Ist das die Aufgabe der Politik?

Auf jeden Fall! Das ist aber offensichtlich nicht gewollt. Außer der Linkspartei will niemand einen Untersuchungsausschuss.

Die SPD und die Grünen haben immerhin einen Sonderermittler vorgeschlagen.

Ja, aber im Gegensatz zu einem Sonderermittler ist ein Untersuchungsausschuss berechtigt, Zeug*innen und Sachverständige zu vernehmen und Ermittlungen durch Gerichte und Verwaltungsbehörden vornehmen zu lassen. Und die Sitzungen sind öffentlich. Deswegen muss man die Forderung aufrechterhalten. Es ist das, was die Betroffenen wollen. Es muss geklärt werden, warum Nazis in Neukölln seit vielen Jahren Anschläge begehen können, ohne dass es Ermittlungsergebnisse gibt. Bisher zeigt das den Nazis, dass sie machen können, was sie wollen.

Handelt es sich um eine neue Qualität des rechten Terrors?

Es gibt Phasen, wo es mehr oder weniger Aktivitäten gibt. Gerade ist es weniger. Die Ängste sind aber weiterhin da. Niemand weiß, wann wieder etwas passiert. Umso wichtiger ist es, die Forderung nach Aufklärung aufrechtzuerhalten und dabei auch das Parlament nicht aus der Verantwortung zu entlassen.

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