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Von Corbyn und Johnson lernen
Für Katja Kipping lässt sich aus dem Wahldebakel in Großbritannien auch für Linke hierzulande etwas lernen. Die alles bestimmende »Brexit-Frage« in Deutschland: Was kommt nach Merkel?
Das Wahlergebnis in Großbritannien wird weithin als Niederlage für Labour und Triumph der Konservativen gedeutet. Das ist nicht ganz falsch, verdient aber einen zweiten Blick. Daraus lässt sich für die Linke hierzulande etwas lernen.
Tatsächlich hat Labour nominell mehr Stimmen als in anderen Wahlen bekommen. Corbyn hat mit 10,3 Millionen Stimmen beispielsweise besser abgeschnitten als seine Vorgänger Blair, Brown und Miliband bei den letzten drei Unterhauswahlen vor der »Ära Corbyn«. Aber das Mehrheitswahlrecht hat ihnen zugleich das schlechteste Ergebnis seit den 1930er Jahren beschert.
Katja Kipping ist eine von zwei Vorsitzenden der Partei DIE LINKE. Die 41-Jährige ist in Dresden geboren. Dort hat sie bis heute ihren Bundestagswahlkreis. Kipping zog 1999 in den sächsischen Landtag ein. Im Jahr 2005 wurde sie erstmals in den Bundestag gewählt, dem sie bis heute angehört. Bis zu ihrer Wahl zur Ko-Vorsitzenden der Linkspartei war sie Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales.
Labour war in der Frage der Gerechtigkeit sehr eindeutig und in der Frage des Brexit sehr uneindeutig. Labour setzte auf ein soziales »unten gegen oben« und verlor gegen Johnsons nationales »wir gegen die anderen«. Die mit dem Brexit verbundene Souveränitätsfrage wollte man mit einer dezidiert linken Klassenkampf- und Umverteilungsfrage lösen.
Hätte es einen anderen Weg geben können? Mehr Brexit oder mehr EU-Verbleib? Wir sollten in der Beurteilung vorsichtig sein. Mit einer eindeutigen Pro-Brexit-Position hätte Corbyn möglicherweise mehr in Arbeiterbezirken im Norden gewonnen, aber in den Remain-Bezirken verloren. Ob mehr Einsatz für den Verbleib in der EU mehr Stimmen von den Grünen und den Liberaldemokraten zurückgeholt hätte, ist fraglich, denn das soziale Programm von Labour war sehr links und radikal.
Die Nachwahlbefragungen der Lord Ashcroft Polls zeigen das genauer. Corbyn hat 84 Prozent der Labour-Wähler gewinnen können, die für Remain gestimmt hatten. Es ist also falsch, dass seine Unentschiedenheit zum massenhaften Abwandern zu den Liberaldemokraten geführt hätte, denn nur 9 Prozent wechselten. Hätte eine Pro-Brexit-Position mehr gebracht? Auch das ist unsicher. 25 Prozent der Labour-Brexiteers von 2017 haben diesmal Boris Johnson gewählt. Diese Zahl ist sicher entscheidend, aber mit einer deutlicheren Pro-Brexit-Haltung hätte Labour auch die 84 Prozent der Remainer aufs Spiel gesetzt, die sie gewählt haben. Womöglich hätten sie in der Summe noch mehr Wahlkreise verloren.
Noch eine andere Zahl, die die Spaltung der britischen Gesellschaft dokumentiert: Der Unterschied zwischen Alt und Jung. Man kann sagen, wer in Großbritannien jung ist, will einen Sozialstaat, lehnt Privatisierungen ab und will massive Investitionen ins Öffentliche und in eine sozial-ökologische Transformation. Wer dagegen alt und Rentner ist, wollte in erster Linie aus der EU raus. Nur 19 Prozent der Erstwähler haben die Tories gewählt, aber 57 Prozent Labour. 62 Prozent der über 65-jährigen haben die Tories gewählt und nur 18 Prozent Labour.
Insoweit war die Zwischenposition von Corbyn in der zentralen Brexit-Frage kein falsches Zaudern, sondern war aus einer schieren Notwendigkeit geboren, die eigene Wählerbasis nicht zu spalten. Ich bin also sehr vorsichtig mit guten Ratschlägen, was hätte besser gemacht werden können – zumal unter den Bedingungen eines Mehrheitswahlrechts.
All das ist sehr britisch, aber eben auch nicht. Es gibt noch einen anderen Faktor, der nicht ganz unwichtig war. Boris Johnson konnte sich als fröhlicher Volkstribun und Gaukler präsentieren, mit dem sich viele vorstellen konnten, im Pub einen zu heben und Spaß zu haben. Der zwar immer wieder beim Lügen erwischt wird, dem man aber auch zutraut, die Sache zu Ende zu bringen. »Let‘s get Brexit done« war sein klares Programm: Wir ziehen das jetzt durch, wir machen das jetzt einfach. Johnson konnte sich als Stimme des Volkes präsentieren, die das Parlament endlich zwingt den Willen des Volkes zu respektieren. Jeremy Corbyn wurde dagegen aus seiner eigenen Partei und der rechten Presse massiv angegriffen und konnte auf die entscheidende Wahlfrage weder eine schnelle, noch eine klare Antwort geben. Stattdessen präsentierte er einen richtigen sozialen Umverteilungsplan.
Was heißt das für DIE LINKE? Wir brauchen eine klare Perspektive für die wahlentscheidende Frage. Alles andere: mehr-oder-weniger Europa, Stadt oder Land, Jung oder Alt, Arbeiter oder Angestellter, weniger links und mehr Mitte, sollten wir hinter der zentralen Mobilisierungsfrage einordnen. Die alles bestimmende »Brexit-Frage« in Deutschland wird sein: Was kommt nach Merkel?
Für Deutschland bedeutet das: Siegt ein schwarzgrüner Block des modernisierten »Weiter-so«, mit der AfD lauernd im Hintergrund, oder gibt es eine soziale Alternative nach links? Wir dürfen nicht Mehrheitsbeschaffer sein, sondern müssen radikalen sozialen Umbau mit einer unmittelbaren Machtperspektive verbinden. Dazu müssen wir unsere linke Idee eines solidarischen Sozialstaats der Zukunft, mit ökologischer Transformationsperspektive und konsequenter Friedenspolitik ins Zentrum rücken. Gemäß dem Motto: »Let’s get it done« – Ziehen wir‘s durch!
Lasst uns im neuen Jahr Optimismus ausstrahlen und gut gelaunt in die Zukunft schauen. Und nicht vergessen: Wir können nur gewinnen, wenn wir in der Durchsetzungsfrage radikal und glaubwürdig sind. Heribert Prantl schrieb in der Diskussion über die Zukunft der SPD: »In Umbruchzeiten sind Utopien realistisch«. Recht hat er.
Mein erster Schluss aus den britischen Wahlen lautet daher: Wir sollten von Jeremy Corbyn im Programm und von Boris Johnson in der Kommunikation lernen. Wir sollten beginnen, die soziale Frage als Regierungsfrage zu radikalisieren und sagen: Wir machen das, weil wir es machen wollen und weil es eine Mehrheit im Land verdient, dass es gemacht wird! Man kann mit uns Pferde stehlen, ein Bier trinken und einen lockeren Witz machen. Aber in dem, was wir erreichen wollen, ist es uns vollkommen ernst.
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