Fragmentierung statt Vereinigung

Trump könnte einen letzten großen Erfolg erzielen: die Zerstörung der Europäischen Union als Alternative zu den USA

  • André Brie
  • Lesedauer: 7 Min.

Es wird gesagt, dass das chinesische Zeichen für Krise identisch mit jenem für Chance sei. Ob es so zugespitzt richtig ist, ist nicht ganz so sicher. Doch inhaltlich stimmt es - unter Voraussetzungen: erstens, ob die Krise wirklich realistisch eingeschätzt wird; zweitens, ob die richtigen Schlussfolgerungen gezogen werden.

Das Problem beginnt schon damit, dass die Studie »Strategische Autonomie Europas« der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) vom Februar 2019 von den Parteien in Deutschland nicht aufgegriffen wurde. Auch wenn die Autoren in ihren Thesen geschrieben haben, dass die EU »weitgehend ein Erfolgsmodell« gewesen sei, sollte nicht vergessen werden, wie heftig und tief ihre vielen Krisen waren. Was die europäische Integration in ihrer Geschichte bisher schaffte, war, aus Krisen tatsächlich auch Chancen zu machen.

Der Autor

André Brie, Jahrgang 1950, hat Außenpolitik studiert und war Dozent am Institut für Internationale Beziehungen in Potsdam-Babelsberg. In den 90er Jahren arbeitete er in verschiedenen Funktionen der PDS, u.a. als Wahlkampfleiter und stellvertretender Parteivorsitzender, und gehörte zu ihren programmatischen Köpfen. Von 1999 bis 2009 gehörte er dem Europäischen Parlament an, von 2001 bis 2016 dem Landtag von Mecklenburg-Vorpommern.

Der hier dokumentierte Text ist zuerst in der Dezemberausgabe des außenpolitischen Journals »WeltTrends« erschienen. Es enthält einen Themenschwerpunkt »Quo vadis, Europäische Union?«. Brie bezieht sich in seinem Artikel auf die Studie »Strategische Autonomie Europas«, die im Februar von der Stiftung Wissenschaft und Politik veröffentlich wurde, und auf die Analyse »Zwischen veränderter geostrategischer Lage und inneren Widersprüchen: Die Europäische Union«, die in September-Ausgabe von »Welttrends« (Heft 155) erschienen war. Darin setzten sich die Autoren mit der Stiftungsstudie auseinander und skizzieren eine Alternative zum neoliberalen, konfrontativen Kurs des Westens gegenüber Rivalen und aufstrebenden Mächten wie Russland, China, Brasilien, Indien und Südkorea.

Zum Weiterlesen: welttrends.de

Foto: Jan Brock

Allerdings war der Preis oft sehr hoch und führte zur heutigen und - nach meiner Meinung - existenziellen Krise der EU. Dazu gehört auch, da kritisiere ich die Autoren, dass die eigentlichen Wurzeln der Europäischen Union nicht wie von ihnen behauptet die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1957 war, sondern die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, Montanunion) auf Initiative des französischen Außenministers Robert Schuman (Schumanplan) und des Unternehmers Jean Monnet schon 1951. Die späteren Europäischen Gemeinschaften nahmen in den 1960er Jahren auch den EGKS-Vertrag gemeinsam mit denen der EWG und der Europäischen Atomgemeinschaft auf.

Notwendige Erinnerungen

Ich weise darauf nicht allein aus historischen Gründen hin, sondern weil es leider üblich geworden ist, die EGKS, Schuman und Monnet zu ignorieren, denn genau dort würden auch jene Möglichkeiten deutlich, die europäische Vereinigung aus ihrer heutigen Bedrohung herauszuführen, so schwierig es auch werden wird. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl war bei weitem nicht primär eine wirtschaftliche Organisation, sondern sollte - vor allem für Monnet und Schuman - nach den furchtbaren Erlebnissen des Ersten und Zweiten Weltkriegs den Nationalstaaten die Herrschaft über die damals entscheidenden Kriegspotenziale entziehen und sie supranational verwalten - für Monnet und Schuman auch pazifistisch und antifaschistisch.

Helmut Schmidt würdigte im Vorwort zu Monnets Erinnerungen eines Europäers zutreffend: »Die Hauptsorge, die Monnet während des Zweiten Weltkrieges bedrückte, war die Gefahr einer Rückkehr zum Nationalismus. ›Es wird keinen Frieden geben‹, schrieb er in einem Memorandum für das in Algier konstituierte französische Nationale Komitee, ‚wenn die Staaten auf der Basis nationaler Souveränität wiederhergestellt werden, mit all dem, was eine Politik des Prestiges und der wirtschaftlichen Protektion mit sich bringt.« Im Übrigen gab es im EGKS-Vertrag auch Ziele für sozialen Wohnungsbau, von denen man heute in der EU und besonders in Deutschland nur träumen kann.

Es ist für mich keine Frage, sowohl die Studien der SWP als auch die Thesen, die in »WeltTrends«-Heft Nr. 155 veröffentlicht wurden, im Grunde zu teilen. Wirkliche Konsequenzen enthielten sie jedoch nicht, diese könnten ohnehin nur von den Parteien kommen und besonders von den Bürgerinnen und Bürgern. Doch die interessieren sich, anders als nach 1945, kaum noch für die europäische Vereinigung, die durch zunehmenden Nationalismus und Populismus existenziell bedroht ist. Dass Großbritannien austritt, ist ebenso wenig überraschend wie die Haltung der USA, die den früheren Beitritt des Landes wie den der Türkei vor allem deshalb massiv unterstützt hatten, weil sie sich davon zu Recht eine Schwächung der europäischen Integration erhofften. Umgekehrt hat die EU weder durch den Vertrag von Lissabon noch durch die Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien oder den osteuropäischen Staaten tatsächlich Voraussetzungen für eine weitere Integration geschaffen.

In den Thesen wird auf gemeinsame Außenpolitik verwiesen oder an anderer Stelle von einer (angeblichen, A. B.) EU-Außenpolitik gesprochen - es war jedoch immer klar, dass gerade die Außenpolitik überall national verteidigt wurde und eine gemeinsame Linie besteht trotz des Vertrages und der Verkündigungen nicht, heute fast noch weniger als in der Vergangenheit. Es gibt keine EU-Außenpolitik. Darüber muss hier nicht argumentiert werden. Völlig richtig heißt es in den Thesen, dass »die Frage mit den inneren Zerfallserscheinungen der EU« am problematischsten ist. Sie betrifft bei weitem nicht nur ihre internationale Politik, sondern ebenso die Innen-, Sozial-, Umwelt- und Wirtschaftspolitik.

Von der globalen Vorherrschaft der USA kann man schon lange nicht mehr sprechen, von einem »Ende der Geschichte« ohnehin nicht. Doch die USA haben wohl leider noch die Möglichkeit, einen letzten historischen Erfolg zu erzielen, die Zerstörung der EU als Herausforderung und Alternative für die Vereinigten Staaten von Amerika. Wie oft habe ich in Lateinamerika oder Asien gehört und erlebt, dass die Europäische Union dort als Beispiel und Hoffnung gesehen wurde!

Welche Chancen?

Wenn die Autoren der »WeltTrends«-Thesen wie auch des SWP-Papiers nach Chancen für die EU fragen, entstehen größte Differenzen. Abgesehen davon, dass ich selbst nach Möglichkeiten fragen würde, die Menschen wieder für die europäische Einigung zurückzugewinnen (der 1945 so dramatische europäische Frieden ist es heute - Gott sei Dank - nicht mehr, obwohl es gut wäre, sich daran zu erinnern). Stattdessen wäre es erforderlich, den Menschen den sozialen Gewinn und die soziale Nähe durch die europäische Integration nahezubringen. Proeuropäischen Parteien und Bewegungen kann ich empfehlen, alles zu tun, damit nicht sie, sondern die Menschen alles machten, um die supranationale europäische Einigung selbst zu erobern.

Zweifel habe ich an der SWP-Position, die Eigenständigkeit Europas gegen China und Russland zu erreichen. Doch auch die Vorschläge der Thesen greifen mir viel zu kurz. Ich gehe hier nicht auf einzelne der Ideen in den Thesen ein. Betonen möchte ich jedoch, dass gerade eine neue Russland-Politik und Zusammenarbeit nötig wären, um gegen Trump und gegen die Krise der EU internationale, europäische Antworten zu finden. Nicht nur in Ostdeutschland wäre es auch eine Politik, die in den Bevölkerungen eine Mehrheit finden würde.

Völlig stimme ich den Autoren der Thesen zu, dass »die EU als Kristallisationskern für gemeinsame europäische Werte und Interessen entfalten« sollte. Ob die gemeinsamen Werte allerdings noch wirklich »gemeinsame« sind, steht infrage. Sie gegenüber Russland zu entfalten, wird auch nicht leicht. Notwendig wäre es aber. In seinem Beitrag »Mehr Westen oder mehr Osten waren?« schrieb Herfried Münkler kürzlich differenziert und deutlich: »Plädiert man (auch deshalb) für die entgegengesetzte Option, die Aufgabe der transatlantischen Bindungen und den Aufbau einer tendenziell europäischen Sicherheitsarchitektur unter Beziehung Russlands, sollte man freilich die daraus resultierenden Risiken und Lasten nicht unterschätzen. Zweifellos sind die damit verbunden politischen Spielräume größer ...«. Noch vor sieben Jahren war die EU bereit und interessiert, die Beziehungen zu Russland auf eine völlig neue und strategische Grundlage zu stellen, doch davon blieb bis heute nichts übrig. Obwohl weder im Iran, in Syrien oder in Europa (Ukraine, Moldau, Kaukasus und darüber hinaus) ohne Russland Lösungen möglich sind, was die meisten in der EU wissen, gab es Sanktionen, Ignoranz gegen Russland und stattdessen die dramatisch überholte Strategie der östlichen Ausdehnung von NATO und EU.

Hat die EU eine Zukunft?

Ob die EU eine Perspektive behält, alles andere wäre eine geschichtliche Tragödie, wird von vielen Dingen abhängen: der Überwindung von neuem Nationalismus und antieuropäischem Populismus, der Gestaltung einer Sozial- und Umweltunion, sicherlich vertraglichen Veränderungen, die ungeheuer schwierig würden, aber eben auch eine intensive Annäherung zwischen der EU und Russland. Altiero Spinelli (1907 - 1986, Partito Comunista d’Italia) organisierte 1980 zusammen mit anderen Abgeordneten den »Crocodile Club« (nach einem Restaurant in Straßburg), der einen neuen europäischen Vertrag anstrebte und einen Sonderausschuss zu seiner Ausarbeitung im Parlament durchsetzte. Unter Leitung Spinellis legte der Ausschuss den »Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union« vor (»Spinelli-Entwurf«), der am 14. Februar 1984 von einer riesigen Mehrheit des Europäischen Parlaments gebilligt wurde und auch die erste europäische Verfassung darstellte.

Das wäre im Europäischen Parlament heute nicht mehr möglich. Doch warum sollten jene Menschen, die die weitere europäische Integration wollen, es heute nicht von unten und gegen die Regierungen erneut versuchen? Die EU, so meine Überzeugung, wird nur noch von den Menschen gerettet und erneuert werden können. Von oben wird wohl nichts mehr kommen.

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