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Große Koalition scheitert an sich selbst
Im Regierungsbündnis wie in den Reihen der Beteiligten sind die Fliehkräfte stärker als die Gemeinsamkeiten
In einer Zeit, in der politische Institutionen gern medizinischen Diagnose unterzogen werden - wie unlängst die »hirntote« NATO durch den französischen Präsidenten Macron -, drängt sich derlei Bestimmung auch für die einst »Große Koalition« auf, die seit Längerem von der Schwindsucht befallen scheint. Bei der Bundestagswahl 2017 hatte sie noch 53,4 Prozent der Wählerstimmen hinter sich, aber schon bei Unterzeichnung des Koalitionsvertrages im März 2018 waren es nur noch knapp über 50 Prozent - ein Wert, der in Umfragen weiterhin beständig sank und sich Anfang 2019 unter der 50-Prozent-Marke einpegelte.
Die Ergebnisse der Europawahl im Mai bestätigten mit nicht einmal 45 Prozent für die Groko-Partner den Abwärtstrend, und seither geht es sukzessive nur noch bergab; inzwischen haben Union (27 Prozent) und Sozialdemokraten (13 Prozent) demoskopisch gerade noch vier von zehn Wählern hinter sich, was die einst »Große Koalition« eigentlich schon zu einer Minderheitsregierung macht und damit ihre demokratische Legitimation in Frage stellt.
Diese Entwicklung ist natürlich nicht zufällig, sondern dem Geburtsfehler des nun schon dritten Bündnisses aus Union und SPD geschuldet, der darin bestand, dass eigentlich keiner der beiden Partner es wollte. Vor allem die SPD hatte die abermalige Groko vor der Wahl 2017 strikt abgelehnt, aber auch die Union hoffte auf eine Mehrheit mit der FDP und war, als diese nicht eintrat, zum Jamaika-Experiment bereit. Nach dessen Scheitern schien die Zwangsehe der alten Koalitionäre für Angela Merkel der bequemste Weg, an der Macht zu bleiben, denn sie hatte gelernt, mit der rechtsopportunistischen Führung der SPD umzugehen.
Das aber erwies sich als zu kurzschlüssig, denn die Schwindsucht der SPD griff nicht nur weiter um sich, sondern sprang auch auf die Unionsparteien über, die zu Anfang dieses Jahres bei Umfragen unter die 30-Prozent-Marke rutschten. Ungeachtet aller Erfolgspropaganda erkannten die Wähler, dass sich die Groko-Partner in den wichtigen Zukunftsfragen immer mehr gegenseitig blockierten und nur zum Minimalkonsens fähig waren - und auch das nur nach langwierigen und quälenden Debatten. Im täglichen Leben mit einer immer unzureichenderen Infrastruktur, steigenden Mieten, Mängeln im Bildungssystem, vom Staat verschuldeten Fehlentwicklungen bei der Integration und einer tiefer werdenden sozialen Kluft konfrontiert, glauben viele nicht mehr an Verbesserungen, sondern fürchten den Verlust des mühsam Erarbeiteten, die Preisgabe von Sicherheiten.
Wo die Groko doch versuchte, Zukunftsprobleme anzugehen, verzettelte sie sich im Kleinklein, scheute sie innovative Lösungen, vermied sie mutige Schritte. Beispiele dafür waren Klimabeschlüsse, die der realen Situation bei Weitem nicht gerecht werden, die Diskussionen um Grundrente und Mietenentwicklung, der Umgang mit auftrumpfendem Rechtsextremismus, buchhalterische Ergebnisbilanzen, die sich bei den Bürgern vor Ort nicht konkretisieren. Zuletzt war es der Bundesrat, in dem die Oppositionsparteien die Mehrheit haben, der zum Klimapaket wenigstens einige begrenzte Verbesserungen durchsetzte.
Aber ungeachtet ihrer offensichtlichen Wirkungslosigkeit klammern sich CDU/CSU und SPD weiter aneinander, was zwangsläufig zu einer Polarisierung und Differenzierung in der Gesellschaft führt, aber auch die einstigen »Volksparteien« innerlich aushöhlt. Hatte dies bei der SPD schon vor Jahren zur Abspaltung linker Kräfte geführt, die sich schließlich mit der PDS vereinigten, so vollzog sich hinsichtlich der Union Ähnliches auf der Rechten. »Schwer Konservative«, wie sie Joachim Gauck nannte, sahen vor allem in der CDU keine Heimat mehr und wurden zu Gründungsvätern der AfD.
Die neue Konkurrenz für die »Großkoalitionäre« links und rechts der selbst definierten Mitte verstärkte die Fliehkräfte innerhalb von Union und SPD. Die Auseinandersetzungen zwischen CDU und CSU vor allem über den Umgang mit Geflüchteten, die beinahe zum Bruch ihrer Fraktionsgemeinschaft geführt hätten, sind dafür ebenso ein Beispiel wie die aktuellen Bemühungen der Wertkonservativen in der Union, stärker an Einfluss zu gewinnen, die gerade im Landesverband Sachsen-Anhalt kulminieren. Die neue Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer hat bisher noch kein Mittel gefunden, die vielbeschworene Geschlossenheit der Partei wiederherzustellen.
In der SPD zeugt der Sieg der als stärker links empfundenen neuen Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans über das alte Parteiestablishment um Olaf Scholz davon, dass auch hier die Differenzierungsprozesse weitergehen. Bei diesen Entwicklungen spielt der Aufschwung der Grünen eine wesentliche Rolle. Er zwingt die Parteien zur Positionierung, was in der SPD jenen Aufschwung gibt, die ein Bündnis links von der Union für erforderlich halten, damit allerdings in der lange zur Mitte tendierenden Partei auf beträchtlichen Widerstand stoßen.
Aber auch in der Union wirkt der Höhenflug der Grünen ernüchternd auf allzu rechtskonservative Blütenträume. So muss der schon die »konservative Revolution« ausrufende CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt nach der Wahlschlappe seiner Partei bei der bayerischen Landtagswahl 2018 und den dort von den Grünen gewonnenen 17,6 Prozent hinnehmen, dass der neue starke Mann Markus Söder aus taktischen Gründen einen maßvollen Kurs eingeschlagen hat. Zwar bedient Söder noch die Sehnsucht seiner Basis nach starken Worten, aber in der Sache nähert er sich vorsichtig jenen Positionen an, mit denen die Grünen erfolgreich waren. Zum einen will er ihnen Wähler abjagen, zum anderen muss er einkalkulieren, dass er sie einmal zum Regieren brauchen könnte.
Auch in der CDU scheiterten auf dem jüngsten Parteitag die Wertkonservativen - sowohl beim Versuch, die blasse Kramp-Karrenbauer durch einen der Ihren zu ersetzen als auch mit den meisten ihrer rückwärtsgewandten Anträge. Trotz Unterstützung durch die rechtslastige Junge Union und den Wirtschaftsflügel scheiterten sie an jenen Delegierten, die offensichtlich die pragmatische, gemäßigte Politik der Bundeskanzlerin vorziehen.
So sieht sich zum Jahresende etwas überraschend Angela Merkel gestärkt, was Umfragen zeigen, bei denen bis zu 70 Prozent der Befragten trotz Kritik für eine Fortsetzung der Koalition sind. An deren Problemen ändert das freilich nichts; sie werden angesichts der inneren Widersprüche der »Partner« und ihrer gegenseitigen Abneigung auch künftig wenig Konstruktives zustande bringen. Womit sich das Siechtum der Groko fortsetzen dürfte, den plötzlichen Exodus nicht ausgeschlossen.
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