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»Der Konsument muss wieder spüren, dass Arbeit eine Ware ist«

In ihrem neuen Buch »Die Angezählten« beschreibt Anette Dowideit eine schrumpfende Mittelschicht, die Schwierigkeiten hat, von ihrer Arbeit zu leben

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 6 Min.

Wer in unserer Gesellschaft ist angezählt?

Das Phänomen, das ich »angezählt« nenne, zieht sich durch einen großen Teil des Arbeitsmarktes. Es fängt an bei den Menschen, die im klassischen Niedriglohnsektor arbeiten: Paketboten, Essenslieferanten, Kellner, Mitarbeiter von Sicherheitsdiensten, in der Gastronomie oder der Landwirtschaft zum Beispiel. Immer mehr von ihnen können nicht mehr von ihren Einkommen leben, die Zahl jener steigt, die trotz Vollzeitjob noch Unterstützung vom Staat brauchen. Die Einkommen steigen deutlich langsamer als die Lebenshaltungskosten.

Ihre Fallgeschichten drehen sich keineswegs nur um Verkäuferinnen, Zusteller oder Altenpflegerinnen. Sie berichten auch aus Berufsfeldern, die man in diesem Kontext nicht erwartet hätte: von Piloten, Lehrerinnen, Bankberatern und sogar Ärztinnen.

Richtig, und das ist eine recht neue und besorgniserregende Entwicklung: Der Abwärtstrend am Arbeitsmarkt betrifft heute auch jene, die als klassische Mittelschicht gelten. Viele in diesen Berufen sind heute von Abstiegsängsten geplagt: Wie lange werde ich meine Arbeitsstelle noch haben? Was kann ich mir von meinem Einkommen leisten? Bekomme ich zum Beispiel einen Kredit, um mir ein Haus leisten zu können? In der Mittelschicht sind neben den steigenden Mieten und allgemeinen Lebenshaltungskosten vor allem drei Entwicklungen für diese Ängste verantwortlich: das Wegfallen vieler Stellen bei großen deutschen Unternehmen wie Deutsche Bank, Volkswagen oder Bayer. Dann die Tatsache, dass sich klassische Anstellungsverhältnisse auflösen und viele Menschen heute gezwungenermaßen als Ich-AG oder Solo-Selbstständige arbeiten. Und: die steigende Zahl der Befristungen.

Ein Kapitel in Ihrem Buch heißt »Billige Beamte«, da geht es um Polizei und Justiz.

Bei der Polizei scheint das drängendste Problem in dieser Hinsicht zu sein, dass die Gehälter mit den Lebenshaltungskosten teils nicht mithalten können. Vor allem in den Großstädten, weil die Mieten dort exorbitant gestiegen sind. Immer mehr Polizisten können es sich nicht leisten, in jener Stadt zu leben, in der sie ihren Dienst versehen. In der Justiz, konkret in den Staatsanwaltschaften, liegt das größte Manko in der heillosen Überlastung. Ich habe in den vergangenen Jahren mit einigen Staatsanwälten gesprochen; die erzählten, sie stünden kurz vor dem Burn-out, weil sich die Akten auf ihren Schreibtischen ins Unermessliche stapeln. Und das liege unter anderem daran, dass die Landesregierungen weniger Neueinstellungen vornähmen, als die Regierungen selbst in Bedarfsanalysen als notwendig ermittelt hätten.

Die offiziellen Arbeitslosenzahlen sind im letzten Jahrzehnt deutlich gesunken, es gibt mehr Erwerbstätige als je zuvor. Wo liegt dann das Problem?

Auf dem Papier sehen die Arbeitsmarktstatistiken gut aus. In Wahrheit aber kommt es nicht so sehr auf die Zahl der Arbeitsplätze an, sondern darauf, welche Qualität sie haben. Die Jobs, die in den vergangenen Jahren, seit dem Inkrafttreten der Agenda 2010, geschaffen wurden, sind zu großen Teilen schlechte Jobs: Arbeit auf Abruf zum Beispiel. Bei der man als Angestellter nicht weiß, wie viel Geld man am Monatsende verdient haben wird, weil die Arbeitgeber einen nur einsetzen und bezahlen, wenn ihre Läden gerade voll sind. Oder Leih- und Zeitarbeit, bei der die Bezahlung deutlich schlechter ist als in klassischen Anstellungsverhältnissen.

Sie behaupten, auch Handwerker stünden unter Druck. Geht es denen nicht relativ gut, wenn man etwa an den Bauboom denkt?

Es kommt immer darauf an, womit man ihre Situation vergleicht. Im Handwerk ist die Situation merkwürdig: Zwar sind die Auftragsbücher voll, gerade als privater Kunde wartet man teils Monate, um einen Betrieb zu finden. Trotzdem steigen in vielen Bereichen die Einkommen kaum. In dieser Branche liegt das vor allem an billiger Konkurrenz aus dem Ausland, es liegt aber natürlich auch an Schwarzarbeit. Und nicht zuletzt daran, dass viele Aufträge mittlerweile über Plattformen im Internet gehandelt werden.

Sie beschreiben eine sogenannte Gig Economy, in der jeder als »Clickworker« zu seiner eigenen Marke werden müsse. Was ist damit gemeint?

Es geht darum, dass immer mehr Berufstätige nicht mehr in klassischen Anstellungsverhältnissen arbeiten, sondern sich oft gezwungenermaßen als Freiberufler verdingen. Sie hangeln sich von einem »Gig« zum nächsten, vermarkten ihre Arbeitskraft häufig über das Netz. Das gilt für Billigjobs per Smartphone, etwa für Uber-Fahrer oder Deliveroo-Essenslieferanten. Aber eben immer häufiger auch für klassische Mittelschicht-Jobs: für Journalisten, Programmierer, Web-Designer und viele andere Berufe. Viele in der Gig Economy konkurrieren mit Menschen überall auf der Welt - und die Konsequenz ist, dass sie ihre Arbeitskraft zu Preisen verkaufen, von denen sie sich keine Altersvorsorge leisten können.

Was haben wir als Konsumenten mit Lohndumping und nicht gezahlten Mindestlöhnen zu tun?

Als Konsumenten haben wir uns so sehr daran gewöhnt, dass Waren - und auch Dienstleistungen, also Arbeitskraft - billig zu haben sind, dass wir es an vielen Stellen wie selbstverständlich einfordern. Ein Beispiel sind Inlandsflüge: für 20 Euro quer durchs Land mit Ryanair. Das geht aber nur, weil diese Fluggesellschaft Dumpinglöhne zahlt. Wir Konsumenten wollen oft gar nicht so genau wissen, wie die Preise zustande kommen.

Schlecht honorierte oder prekär organisierte Arbeit bedeutet auch eine psychologische Abwertung. Was macht unsichere Beschäftigung mit den Menschen?

Der Verlust eines Arbeitsplatzes kann auf die Psyche wirken wie der Verlust eines nahen Angehörigen. Darüber gibt es einiges an Forschung. Und ähnlich verhält es sich mit Arbeit, für die sich die Betroffenen unfair bezahlt oder auf andere Weise über den Tisch gezogen fühlen. Wenn wir ständig auf Abruf sind, nicht wissen, wie viel Geld wir am Monatsende auf dem Konto haben werden oder wie lange wir unsere Jobs noch haben. Es zehrt am Selbstbewusstsein, es belastet die Psyche, kann sogar arbeitsunfähig machen. Wenn diese Phänomene Massen von Menschen am Arbeitsmarkt treffen, kann sich das zu einem veritablen Problem für die Volkswirtschaft auswachsen.

Ihr Fazit lautet: »Arbeit muss wieder teurer werden.« Wie soll das politisch durchgesetzt werden?

Mir erscheinen zwei Punkte besonders wichtig: Zum einen, dass wir wieder zu mehr Tarifbindung in der Arbeitswelt kommen. Denn momentan drehen wir uns in einer Negativspirale immer weiter nach unten, Arbeitgeber unterbieten einander in vielen Branchen immer weiter mit Billiglöhnen. Das ist zum Beispiel im Einzelhandel der Fall. Sie tun das, um ihre Waren immer billiger anbieten zu können. Und das führt zum zweiten Punkt: Wir müssen dafür sorgen, dass der Konsument wieder spürt, dass Arbeit eine Ware ist, die Geld kostet. Das ginge zum Beispiel, indem wir, wenn ein Pizzalieferant oder Paketbote an unsere Tür kommt, mit der Bezahlung der Ware per App direkt eine kleine Summe ins Sozialversicherungskonto solcher Freiberufler zahlen: eine Art Konsum-Sozialabgabe.

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