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Der Ingenieur und der Posterboy

Mit Karl Geiger und Ryoyu Kobayashi kämpfen derzeit zwei ganz unterschiedliche Typen um den Sieg bei der Vierschanzentournee

  • Lars Becker, Innsbruck
  • Lesedauer: 5 Min.

Es gibt Momente, in denen deutlich wird, wie unterschiedlich Karl Geiger und Ryoyu Kobayashi doch sind. Jenen im Aufwärmraum auf dem Schanzenturm von Garmisch-Partenkirchen etwa, kurz vor dem entscheidenden zweiten Durchgang beim Neujahrsspringen. Während sich der Deutsche Geiger mit geschlossenen Augen konzentriert, blickt der Japaner im Hintergrund mit einem Lächeln in Richtung seines großen Konkurrenten der 68. Vierschanzentournee.

Vielleicht ist Kobayashi in diesem Moment etwas zu selbstgewiss. Denn auch wenn er einen nahezu perfekten Sprung bei 141 Metern landet, setzt Geiger direkt nach ihm mit 141,5 Metern noch einen drauf. »Ich wusste, dass er weit gesprungen ist. Und habe mir gedacht: Jetzt klopfe ich auch einen raus«, erzählt Geiger danach ebenfalls selbstbewusst. Der schier unschlagbare Überflieger Ryoyu Kobayashi kassiert am Neujahrstag nach einer Serie von fünf Siegen bei der Vierschanzentournee seine erste Niederlage. Das zeigt vor dem dritten Tourneespringen an diesem Sonnabend in Innsbruck, dass der 23 Jahre alte Titelverteidiger aus Fernost verwundbar geworden ist.

»Ryoyu ist bei der Tournee noch nicht so im Flow wie im letzten Winter. Er muss Skispringen momentan arbeiten«, erklärt Richard Schallert. Der Weltenbummler aus Österreich ist seit vergangenem Frühjahr Heimtrainer Kobayashis, damit aber nicht allein verantwortlich für ihn. In Japan ist Skispringen anders als hierzulande organisiert. Es wird nicht in Vereinen, sondern in Firmenteams trainiert. Kobayashi steht bei der Tsuchiya Holding unter Vertrag, einem Immobilienunternehmen aus Sapporo. Sportdirektor ist der 47-Jährige Noriaki Kasai. Die Skisprunglegende ist selbst immer noch aktiv, hat aber wegen Formschwäche erstmals seit einem Vierteljahrhundert die Nominierung für die Tournee verpasst. Bei Olympia 2022 in Peking will Kasai trotzdem dabei sein - dann mit fast 50.

Kasai ist überall bestens bekannt, der nicht mal halb so alte Kobayashi dagegen in der Szene immer noch ein Rätsel. Nicht nur wegen seines einzigartigen Flugstils, der ihn nach einem katapultartigen Absprung immer wieder blitzartig in die richtige Fluglage bringt und mit maximaler Geschwindigkeit zu Topweiten fliegen lässt. Sondern vor allem wegen seiner Wortkargheit - dem Motto getreu: »Weite Sprünge, kurze Sätze.« Bekommt er Fragen gestellt, sind Kobayashis Antworten meist ultrakurz. Selbst wenn der Übersetzer versucht, wirklich alles herauszuholen. Als er dieser Tage nach seinem Erfolgsgeheimnis gefragt wird, antwortet er mit einem Grinsen: »Keine Ahnung.« Auf die Nachfrage, was der Sieg bei der Vierschanzentournee und im Gesamtweltcup im vergangenen Winter verändert habe, sagt Kobayashi nur: »Ich muss mehr Interviews geben.«

In der Heimat ist Kobayashi Posterboy. Dass er dort auf der Straße erkannt wird, als Frauenschwarm gilt, erfährt man jedoch nur aus anderen Quellen. Der Mann mit dem Spitznamen »Roy« ist aber nicht nur in Japan eine Berühmtheit. Finanziell wird er mittlerweile von einer österreichischen Brausefirma beflügelt. Das bringt ihm das nötige Kleingeld, um sich ein paar seiner Träume zu erfüllen.

Kobayashi liebt nämlich abseits des Skispringens vor allem schnelle Autos und modisch-gestylte Dinge. Er hat sich selbst einmal als »etwas verrückten Neo-Japaner« bezeichnet. Übersetzt heißt das wohl, dass traditionelle japanische Tugenden wie harte Arbeit und Zurückhaltung nicht die einzigen Richtungsweiser in seinem Leben sind. Über Weihnachten hat er zum Beispiel komplett aufs Training verzichtet und war stattdessen in Paris. »Er lebt in seiner eigenen Welt, denkt nicht 24 Stunden an Skispringen. Roy möchte Skispringen auch nicht als Beruf ansehen, weil ihn das zu sehr belasten würde«, verrät Heimtrainer Schallert.

Diese Ansichten des Ausnahmetalents aus Fernost passen kaum zu denen von Karl Geiger. Der 26-jährige Deutsche - derzeit knapp hinter Kobayashi in der Tourneegesamtwertung auf Platz zwei - musste sich stattdessen in seiner Karriere alles hart erarbeiten. Geiger stand lange im Schatten von Olympiasiegern wie Severin Freund oder Andreas Wellinger. Erst die olympische Team-Silbermedaille 2018 in Pyeongchang brachte ihn erstmals ins Rampenlicht. Der Erfolg löste einen Knoten, aber auch danach ging es nicht geradlinig bergauf.

Im vergangenen Winter schaffte Geiger bei der Generalprobe für die Vierschanzentournee seinen ersten Weltcupsieg und reiste danach als deutscher Hoffnungsträger zum Grand Slam der Skispringer. Doch der Erfolgsdruck war damals noch zu groß. Geiger blieb im Schatten seines Zimmerkollegen Markus Eisenbichler hängen, der an seiner Stelle Kobayashi herausforderte, am Ende aber klar den Kürzeren zog. Bei den Weltmeisterschaften zwei Monate später klappte es dann besser: Eisenbichler holte sich dreimal WM-Gold, und auch Geiger erlebte mit zwei Teamtiteln und Einzelsilber die größten Erfolge seiner Karriere. Übrigens jeweils vor Kobayashi auf der Schanze von Innsbruck, auf der an diesem Sonnabend das dritte Springen der Tournee ausgetragen wird.

Diese WM-Triumphe haben Geiger das nötige Selbstbewusstsein gegeben, um bei der diesjährigen Tournee endgültig die Rolle als deutscher Vorflieger einzunehmen. »Karl ist ein akribischer Arbeiter, der an jedem Detail feilt«, sagt Bundestrainer Stefan Horngacher. So springt er als einziger aktueller Topathlet im deutschen Team mit einem Vollgesichtshelm mit Wangenschutz - das bringt zwar kaum aerodynamische Vorteile, aber angeblich ein besseres Flug- und Hörgefühl. Auch an seiner Anfahrtsposition hat Geiger gearbeitet und kann deshalb nun noch besser abspringen. Nur Sekunden nach der Landung ist der Oberstdorfer zudem schon in der Lage, seine Sprünge perfekt zu analysieren.

All das hat ihm von seinen Kollegen den Spitznamen Ingenieur eingebracht. Der passt übrigens auch abseits der Schanze: Kurz vor Weihnachten hat Geiger sein Studium abgeschlossen und nun den »Bachelor of Engineering« in der Tasche. Mit Akkuratesse arbeitet der Allgäuer also bereits am Leben nach dem Skispringen - ganz aktuell aber an der Erfüllung des Traums vom ersten deutschen Tournee-Gesamtsieg seit 18 Jahren. »Karl lässt sich einfach nicht mehr beirren. Er zieht sein Ding gnadenlos durch und wächst immer weiter«, wunderte sich Chefcoach Horngacher nach Geigers zwei zweiten Plätzen bei den beiden Tourneespringen in Deutschland.

Geiger jubelte danach kurz wie entfesselt - und war nur Minuten später wieder so rational-bodenständig, wie es seinem Charakter nun einmal entspricht. Yoga helfe ihm, um inmitten des riesigen Rummels bei sich zu bleiben. »Wenn man sich zu sehr freut, ist der Adrenalinspiegel zu hoch. Und das verbraucht zu viel Energie. Karl weiß genau, wie das geht«, sagt Horngacher. Deshalb glaubt er auch, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis Karl Geiger ganz oben steht. Es könnte schon am 6. Januar beim Tournee-Finale in Bischofshofen so weit sein. Das zumindest glaubt der letzte deutsche Gesamtsieger Sven Hannawald: »Bei Karl hat es Klick gemacht. Jetzt sind selbst kleine Wunder möglich.« Zum Beispiel, dass der Ingenieur den Posterboy überflügelt.

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