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Das Märchen vom linken Terrorismus
Wie die Polizei Falschmeldungen verbreitet und was daraus für Journalisten folgt
Es war einmal ein unter Strom gesetzter Türknauf, ein paar Eisenspeere und Molotowcocktails. Glaubt man Polizei Tweets und Medienberichten der vergangenen Jahre, dann ist linke Gewalt in Deutschland tatsächlich zu einem Problem geworden. Doch fernab der Märchenwelt sieht die Realität meist anders aus: Polizeibehörden verbreiten immer häufiger Fake-News.
Als »besonders in den Sozialen Medien in manipulativer Absicht verbreitete Falschmeldungen«, definierte der Duden den Begriff 2017. Weil viele Medien die Fake-News der Polizei ungeprüft übernehmen, landen sie dort als Fakten. Die Folge: Ein Großteil der Bevölkerung ist entsetzt und diskutiert über Linksterrorismus. Und das obwohl die Zahl »linksextremer Gewalttaten« seit Jahren zurückgeht: laut Statistik des Bundeskriminalamts (BKA) gab es 2018 gegenüber dem Vorjahr einen Rückgang um fast ein Drittel (32 Prozent), während rechtsextreme Gewalttaten um 2,3 Prozent zugenommen hatten. Von 36.062 politisch motivierten Straftaten waren 7.961 linksextrem, 20.431 rechtsextrem motiviert.
Wenn dann einige Tage, Wochen oder Monate später herauskommt, dass die Darstellung der Polizei falsch war, interessiert das meist niemanden mehr. Was bleibt, ist der Schaden für die linke Bewegung.
Jüngstes Beispiel: Silvester in Leipzig-Connewitz. Die Polizei hatte dort zunächst behauptet, Anwohner*innen hätten einen Polizisten so schwer verletzt, dass dieser in Lebensgefahr schwebe und notoperiert werden müsse. Die Presseagenturen schrieben die Meldung ungeprüft ab, die meisten Zeitungen auch. Die Boulevardpresse bauschte die Nachricht weiter auf. »Chaoten wollten Polizisten töten«, titelte etwa das Nachrichtenportal »Tag24«. »Ärzte retteten dem Mann durch eine Not-OP das Leben«, schrieb die Bild unter dem Titel»Mord-Ermittlung nach brutalem Angriff«.
Auch die Reaktionen aus der Politik waren immens. So sprach etwa Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) von »linkem Terror«. Der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, warnte davor, dass sich im linken Spektrum »militante Strukturen nach dem Muster der Roten Armee Fraktion (RAF)« entwickeln würden.
Drei Tage später musste die Polizei eingestehen, dass der verletzte Beamte nicht notoperiert wurde und auch nie in Lebensgefahr geschwebt hatte. Auch die Behauptung, bei dem »orchestrierten Angriff« sei einem Beamten der Helm vom Kopf gerissen worden, konnte inzwischen durch ein Video von einer Privatperson widerlegt werden.
Bundesweites Problem von Polizeibehörden
Doch Connewitz ist kein Einzelfall. Bei der Räumung des Kiezladens Friedel 54 in Berlin-Neukölln im Sommer 2017 twitterte die Polizei von einer »Lebensgefahr für unsere Kollegen«, weil der Knauf einer Kellertür »unter Strom gesetzt« worden sei. Auch in diesem Fall war die öffentliche Empörung groß. Der Gegendarstellung des Kollektivs glaubten dahingegen nur Wenige.
Kein Wunder: Laut dem Polizeiforscher Peter Ullrich von der Technischen Universität Berlin verfügt die Polizei über eine Deutungs- und Definitionsmacht. »In der Forschung gilt sie als ‘primary definer‘, das heißt sie genießt einen Vertrauensvorschuss und kann grundlegende Wahrnehmungen prägen und definieren«, erklärt Ullrich. Da die Polizei in der Glaubwürdigkeitshierarchie von Institutionen ganz oben stehe, werde ihre Sicht leicht zur Allgemeinsicht.
Als eine schriftliche Anfrage der LINKEN-Abgeordneten Anne Helm, Niklas Schrader und Hakan Taş im Berliner Abgeordnetenhaus viel später aufklärt, dass es den »Türknauf des Todes« nie gegeben hatte, ist der Schaden für das Kollektiv und die linke Bewegung schon entstanden: Im öffentlichen Gedächtnis bleibt nicht die gewaltsame Verdrängung eines Projekts, sondern ein vermeintlicher »Mordversuch« (Bild) von Linken.
Eine ähnliche Falschmeldung verbreitete auch die Aachener Polizei während der Räumung des Hambacher Forsts im September 2018. Auf Twitter zeigte sie Fotos von einem mit Beton gefüllten Kübel im Wald, der »mittels einer Drahtseilkonstruktion« in die Höhe gezogen werden könne. »Es besteht Lebensgefahr für alle«, hieß es in einer Mitteilung. Nach zahlreichen Hinweisen darauf, dass der Eimer eine Verankerung für ein Kletterseil war, korrigierte die Pressestelle am darauffolgenden Tag ihre Meldung. Da hatte die Mythe von den »Fallen im Wald« den Protest bereits diskreditiert.
Polizei als politischer Akteur
Bis heute wird an vielen Journalismusschulen das Prinzip der »privilegierten Quellen« gelehrt: Angaben von Polizei und staatlichen Behörden müssen demnach keiner zweiten Prüfung unterzogen werden.
Doch davon auszugehen, dass die Sichtweise der Polizei objektiv ist, sei hochgradig gefährlich, erklärt Ullrich. »Die Polizei ist eine Organisation und hat wie jede andere Organisation eigene Interessen«, so der Wissenschaftler. »Organisationen wollen sich stets in einem guten Licht darstellen. Denn ein gutes öffentliches Image ist wichtig für ihre Anerkennung und die Bereitstellung von Ressourcen«, sagt Ullrich.
Ein Beispiel für solche Interessen seien auch Strafbedürfnisse der Beamt*innen: der Wille, Verdächtige oder »Gegner« zu überführen, auch wenn wenig Belastbares vorliege. »Da wird dann nach Anhaltspunkte gesucht oder dramatisiert«, erklärt Ullrich.
So behauptete die Polizei beim G7-Gipfel in Elmau von einer »mit Benzin gefüllten Flasche« beworfen worden zu sein. Sie rechtfertigte damit den Einsatz von Pfefferspray und Schlagstöcken. Später zog sie die Aussage zurück. Bereits im Vorfeld hatte die Bundespolizei den Protest durch eine falsche Kontextualisierung diffamiert. Unter ein Foto mit zahlreichen Waffen twitterte sie: »Erfolgreiche Grenzkontrollen an der A 93 – diese verbotenen Waffen haben wir heute beschlagnahmt« und fügte die Hashtags #G7 und #G7Summit hinzu. Dass die Waffenfunde mit dem Gipfeltreffen in Verbindung standen, darauf hatte die Polizei keinerlei Hinweise. Durch die Verwendung von Hashtags Sachverhalte miteinander in Verbindung zu bringen, die nichts miteinander zu tun haben: auch das ist eine gängige Methode von Fake-News.
Zwei Jahre später, beim G20-Gipfel in Hamburg, berichtete die Polizei medienwirksam von Hunderten Verletzten Beamt*innen. Sie hatte dabei die Information unterschlagen, dass es sich bei der hohen Anzahl auch um Polizist*innen handelte, deren Verletzungen mit linken Protestierenden nichts zu tun hatten: Beamt*innen, die ohne Fremdverschulden gestolpert waren oder nicht genug Wasser getrunken hatten und deshalb Kreislaufprobleme bekamen. Ebenso Polizist*innen, die durch »Kolleg*innen« verletzt worden waren, etwa beim Einsatz von Pfefferspray und Schlagstöcken.
In einem Tweet hatte die Polizei darüber hinaus berichtet, dass Beamt*innen mit Molotowcocktails beworfen worden waren. Kurz nach dem Tweet rückten Spezialkräfte ein und räumten das Areal. Im Schanzenviertel hingegen war die Polizei stundenlang abwesend und rechtfertigte dies später mit der Sorge vor einem Hinterhalt. Linke hätten sich mit Eisenspeeren bewaffnet. Beweise dafür gibt es bis heute nicht. Auch bei den vermeintlichen Molotowcocktails handelte es sich lediglich um einen einfachen Böller, wie ein Brandschutzexperte bei der Aufarbeitung in der Hamburger Bürgerschaft später klarstellte.
Die Polizei ist oft selbst Konfliktpartei
»Die Polizei ist ein ganz spezifischer Akteur, denn sie hat das staatliche Gewaltmonopol inne«, erklärt Ullrich. Sie stehe aber nicht über Konflikten, sondern sei oft selbst Konfliktpartei, so der Wissenschaftler.
Einsätze bei Demonstrationen, vor allem am Wochenende, stellten für die Beamt*innen eine zusätzliche Belastung dar. Für deren (politischen) Sinn würden sie oft wenig Verständnis aufbringen, erklärt Ullrich. Im Konfliktfall spielten dann auch Whats-app Gruppen eine große Rolle. Dort würden Gerüchte, Bilder und Mythen ausgetauscht, die Gegnerkonstellationen befeuerten, so Ullrich.
Inzwischen hat der Deutsche-Journalisten-Verband (DJV) dazu aufgerufen, »Meldungen und Informationen der Polizeibehörden in allen Fällen kritisch zu hinterfragen«. Anlass für die Stellungnahme des DJV waren Berichte über die Ende-Gelände-Proteste im Juni vergangenen Jahres. Dort hatte die Polizei von 16 verletzten Beamt*innen gesprochen. Erst auf Nachforschung eines WDR-Journalisten kam heraus, dass es nur zwei waren.
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