Gespräch mit Eric Fassin

»Das Volk, von dem die Rechten träumen, kann nicht das Volk der Linken sein«

  • Franziska Albrecht und Johanna Bussemer
  • Lesedauer: 12 Min.

Sie haben ein Buch über Populismus geschrieben. Warum?

Weil etwas im politischen Diskurs in Frankreich passiert ist, aber nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa. Der Begriff Populismus wurde in Frankreich jahrelang verwendet, um Entwicklungen der extremen Rechten anzuprangern. Mit der Gefahr, mit dem Populismus nicht nur die extreme Rechte, sondern auch das Volk abzulehnen, weil man davon ausgeht, dass das Volk, d.h. die Arbeiterklasse, der Versuchung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit usw. erliegt. Populismus war also lange Zeit ein Stigma der extremen Rechten. Seit ungefähr 2010 ist eine andere, positive Bedeutung von Populismus aufgetaucht, die von links kam.

Dies war in Spanien der Fall mit »Podemos« und in Frankreich mit der veränderten Strategie von Jean-Luc Mélenchon. Er wechselte von einer explizit linken Strategie – »Parti de gauche« (Linkspartei), »Front de gauche« (Linksfront), rote Fahnen und die »Internationale« – zu einer anderen Strategie, die insbesondere durch die Philosophin Chantal Mouffe inspiriert wurde und die im Namen »France insoumise« (unbeugsames Frankreich) zusammengefasst wird: Es geht nicht mehr um die Linke, sondern um die Nation, was sich in dem Bezugnehmen auf die Trikolore und die Marseillaise zeigt.

Diese populistische Strategie basiert auf der Annahme, dass wir einen besonderen historischen Moment nutzen müssen, den Chantal Mouffe einen »populistischen Moment« nennt. Dieser sei eine Reaktion auf den »neoliberalen Moment«, der durch Persönlichkeiten wie Tony Blair, Zapatero, Schröder sowie ganz allgemein durch die französische Sozialdemokratie geprägt wurde. Dieser neoliberale Moment habe die Politik auf merkwürdige Weise unsichtbar gemacht. Um Politik als solche wieder sichtbar zu machen und wiederzuentdecken sei es notwendig, sich auf einen neuen Gegensatz zu konzentrieren: den zwischen dem Volk und den Eliten. Diese Strategie des »Linkspopulismus« hat meines Erachtens den Nachteil, dass das Attribut »links« daran zweitrangig und der »Populismus« wesentlich ist.

»Populismus« ist das Substantiv und »links« das Adjektiv. Daher denke ich, dass wir heute eine politische Auseinandersetzung innerhalb der Linken darum führen müssen, was als Erstes kommt: Wollen wir von einer Unterteilung in »Volk« und »Elite« ausgehen oder von einer Unterteilung in rechts und links? Mit anderen Worten: wollen wir von einer soziologischen Unterteilung zwischen zwei sozialen Gruppen oder einer ideologischen Unterteilung zwischen zwei Weltanschauungen ausgehen? Ich selbst glaube, dass es für die Linke von grundlegender Bedeutung ist, den politischen Gegensatz als einen ideologischen zu fassen.

Warum soll oder kann die Linke nicht populistisch sein?

Die Linke kann durchaus populistisch sein, aber es ist nicht in ihrem Interesse. Denn wenn wir anfangen, zu sagen, dass die Trennung zwischen rechts und links zweitrangig ist, dann fangen wir auch an zu glauben, dass »rechts« und »links« nicht so wichtig sind. Warum sollten dann die Menschen für die Linke stimmen? Die Menschen, die die Rechten unterstützen, müssen nicht notwendigerweise an den Gegensatz zwischen rechts und links glauben. Rechte müssen nicht sagen, dass sie rechts sind, um rechts zu wählen. Linke müssen sich als Linke identifizieren, sie müssen glauben, dass es eine Alternative gibt! Rechte können sagen: »Ich bin realistisch, ich habe keine Ideologie, ich passe mich der Realität an.«

Dieser rechte Pragmatismus ist für die Linken nicht möglich. Links zu sein bedeutet nicht nur, die Realität zu akzeptieren, sondern eine unterschiedliche, eine alternative Sichtweise der Realität vorzuschlagen. Ich denke, das ist gerade in der heutigen neoliberalen Welt, der Welt von Margaret Thatchers Schlagwort TINA (There is no Alternative) ungemein wichtig. Denn dieses im Kern rechte Weltbild wurde schließlich auch das der Sozialdemokratie. Die Sozialdemokratie schloss sich einem neoliberalen Realismus an – in den meisten sozialdemokratischen Parteien Europas, in den Vereinigten Staaten und anderswo.

Es ist ein Problem, wenn wir den Gegensatz zwischen rechts und links aufgeben, um diesen Rechtsruck zu bekämpfen. Denn wenn wir ihn ausklammern, wenn wir denken, dass die Wähler*innen letztendlich nicht mehr an den Gegensatz zwischen rechts und links glauben, müssen wir ihn als Linke auch aufgeben. Natürlich gibt es einen guten Grund, warum es Wähler*innen schwer fällt, an den Gegensatz zwischen den Rechten und Linken zu glauben: Sie hatten den Eindruck, dass die gleiche Politik herauskam, egal für wen sie gestimmt haben – ob beim Thema Wirtschaft oder beim Thema Einwanderung.

In all den Themen, die heute das politische Leben organisieren, war der Unterschied nicht wirklich sichtbar. Wenn wir wollen, dass die Menschen an die Demokratie glauben, besteht die Herausforderung darin, wieder eine Politik und eine Ideologie zu schaffen, eine Alternative zwischen rechts und links, zwischen unterschiedlichen Werten. Daraus ergibt sich eine völlig andere Strategie als die des Linkspopulismus.

Der Linkspopulismus scheint von einer endlichen und begrenzten Wählerschaft auszugehen – von denen, die wählen – und erhofft sich, einige von Rechtspopulismus zum Linkspopulismus zu ziehen. Darin steckt die Annahme, dass beide Populismen einen gemeinsamen Kern hätten, den Chantal Mouffe als »demokratischen Kern« bezeichnet. Ich persönlich glaube nicht, dass die Wähler*innen von Marine Le Pen von einem »demokratischen Kern« bestimmt sind, im Gegenteil. Ich denke, dass die Wähler*innen von Trump einer faschistischen Versuchung nachgehen. Dasselbe gilt für die, die Bolsonaro in Brasilien, Orbán in Ungarn oder Erdoğan in der Türkei wählen.

Ich glaube, der Rechtspopulismus hat nichts mit der Linken gemeinsam. Wir sollten nicht dem Irrglauben anhängen, dass wir das Ressentiment von rechts in eine Empörung oder Revolte von links wenden können. Denn es geht hier um den Genuss des Ressentiments gegen Migrant*innen und religiöse, sexuelle oder ethnischen Minderheiten, den wir von Brasilien bis zu den Vereinigten Staaten und Ungarn sehen können.

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Das bedeutet nicht, dass wir es aufgeben sollten, die Welt oder die Kräfteverhältnisse in unseren heutigen Demokratien zu verändern. Das heißt aber, dass die größte Reserve an Stimmen diejenigen sind, die sich enthalten. Die linkspopulistische Strategie scheint davon auszugehen, dass die Wähler*innen von einem Lager in ein anderes überführt werden müssen. Ich denke, wir sollten von einer anderen Strategie ausgehen: nämlich zuallererst, diejenigen Menschen zu gewinnen, die nicht wählen, weil sie verdrossen von der Politik sind und denken, dass sich ohnehin nichts ändern lässt. Diesen Leuten müssen wir sagen, dass Politik nützlich ist, weil sie unterschiedliche Weltanschauungen bietet.

Das sind eben nicht dieselben Leute, wie die, die schon zur Wahl gehen oder die, die für faschistische Parteien stimmen. Die Nichtwähler*innen sind jünger und sie gehören vor allem der Arbeiter*innenklasse an – sie sind eine von der Linken verlorene Wählerschaft. Und sie sind eben nicht dieses »weiße« Volk, dass die Rechten feiern, sondern ein vielfältiges Volk: es gibt einige, die ‚weiß‘ sind, aber viele andere, die es nicht sind. Wenn die Linke auf dieses Volk setzt – ein linkes Volk, das nicht eine »Farbe«, sondern viele unterschiedliche Gesichter hat – kann sie meiner Meinung nach wieder hoffen, eine demokratische Alternative aufzubauen; nicht nur mit einer anderen Wirtschafts- oder Einwanderungspolitik, sondern auch mit einer anderen Definition von Politik und einer anderen Auffassung des Volkes. Das Volk vom dem die Rechten träumen, kann nicht dasselbe sein, wie das, von dem wir Linke träumen sollten.

Wieso haben die Französ*innen bei den letzten Europawahlen mehrheitlich für Marine Le Pen und ihr ‚Rassemblement National‘ gestimmt?

Erstens, weil die Hälfte nicht wählt. Nicht die Mehrheit der Bevölkerung hat für Marine Le Pen gestimmt, sondern die Mehrheit derer, die wählen waren. Ich bestehe auf diesem Unterschied, den wir immer vergessen, wenn wir über Wahlen sprechen. Es ist, als ob nur die Menschen existieren, die wählen: Wir feiern die Tatsache, dass es ein paar Wähler*innen mehr gibt, aber vergessen, über diejenigen zu sprechen, die nicht wählen. Den zweiten Grund habe ich schon genannt: Wenn es keine Alternative gibt, warum dann nicht für die extreme Rechte stimmen, die uns erklärt, dass rechts und links gleich sind? Wer beharrt historisch auf dieser Rhetorik von »weder rechts noch links«? Die Rechten. Wie kann man den Gegensatz zwischen rechts und links überwinden? Mit den Rechten. Das ist also nicht überraschend.

Natürlich haben die Menschen gute Gründe, mit der derzeitigen Politik sehr unzufrieden zu sein. Aber es sind nicht einfach nur sympathische Menschen, die sich irren. Genau hier dürfen wir nicht herablassend gegenüber den Wähler*innen der Front National sein, sondern müssen sie ernst nehmen. Diese Menschen wissen sehr genau, was sie tun, sie haben eine gewisse Freude daran, Migrant*innen anzugreifen und ein ‚nicht weißes‘ Frankreich, ein ‚schwarzes‘ Frankreich, ein ‚arabisches‘ Frankreich anzugreifen. Es ist sehr wichtig, zu verstehen, dass die Wahl des Front National nicht ein Symptom sozialen Leidens ist, sondern eine ideologische Entscheidung, die einen Genuss impliziert. Diese Entscheidung müssen wir bekämpfen anstatt dem »Unglück« der Wähler*innen des Front National mit Empathie zu begegnen! Einige von ihnen leiden vielleicht, aber nur einige.

Viele leiden offensichtlich nicht besonders. Und es gibt viele Menschen, die leiden und trotzdem nicht für die Front National stimmen. Wir dürfen die Wähler*innen nicht auf eine Opferrolle reduzieren. Wir müssen sie respektieren und als politische Subjekte anerkennen, auch diejenigen, die wir hassen und mit denen wir tiefe Meinungsverschiedenheiten haben. Diese Menschen sind nicht nur das Resultat ihrer materiellen Verhältnisse, nicht mehr als ich, nicht mehr als wir. Sie sind natürlich objektiven materiellen Verhältnissen unterworfen, aber sie sind auch politische Subjekte, wie ich, wie wir.

Was sollte eine europäische Linke tun, um diesen rechten Bewegungen, diesem Votum für Rechts, diesem »neofaschistischen Moment«, wie Sie sagen, entgegenzuwirken?

Ich denke, dass es in der Tat nützlich ist, die Wortwahl zu ändern: Statt sich einen »populistischen Moment« vorzustellen, der den Eindruck erweckt, dass es sich letztendlich um einen gemeinsamen Hintergrund der Rechten und der Linken handelt, ist es wichtig zu sagen, dass wir vor einem »neofaschistischen Moment« stehen. Die extreme Rechte ist sehr präsent, auch wenn heute in Frankreich viele Kommentator*innen glauben möchten, dass »es schlimmer hätte kommen können«, dass der Front National oder ‚Rassemblement National‘, wie sie neuerdings heißen, ein noch höheres Ergebnis hätte erzielen können. Was mich am meisten bestürzt, ist, dass wir heute nicht einmal mehr überrascht sind und uns nicht einmal mehr entrüsten vor diesen beeindruckenden Zahlen, vor dem Umstand, dass der Rassemblement National an erster Stelle bei den Europawahlen steht.

Was können wir also tun? Erstens, Nichtwähler*innen ansprechen. Zweitens, eine Alternative vorschlagen. Drittens, uns nicht in den nationalen Rahmen einsperren. Denn der nationale Rahmen ist heute in gewisser Weise das Geschäft der Rechtspopulisten oder Neofaschisten. Sie schlagen eine souveränistische, nationale oder eher nationalistische Form des Neoliberalismus vor.

Diese drei Dinge braucht es. Sie sind natürlich nicht einfach, aber es ist das, was getan werden muss. Wir müssen deutlich sagen, dass wir nicht nur ein Spiegelbild der Realität sind – weder der wirtschaftlichen Realität, noch der Realität der Wähler*innen; Politik bedeutet immer, Visionen der Welt, auch alternative Visionen zu kreieren. Es muss auf europäischer Ebene nachgedacht werden, wie wir zu verschiedenen Themen einen alternativen Diskurs produzieren.

Da gilt für die Wirtschaft: Wie kann hier eine wirkliche Alternative wieder denkbar werden? Wir müssen wieder die Möglichkeit einer (Aus)Wahl schaffen – das ist das Wichtigste.

Dasselbe gilt für die Ökologie: In Frankreich wie in Deutschland wird immer häufiger davon ausgegangen, die Ökofrage würde irgendwie den Gegensatz zwischen rechts und links überwinden. Es ist sehr wichtig, darüber nachzudenken, wie man eine linke Ökologie aufbauen kann. Und diese ist nicht mit einer rechten Ökologie identisch. Wenn wir diesen Unterschied verwischen, stärken wir eine postideologische Sicht der Welt, die das Fundament der demokratischen Politik leugnen würde.

Am brisantesten stellt sich die Frage vielleicht beim Thema Migration. Auch hier haben sich die sozialdemokratischen Parteien einer Art Realismus angeschlossen. »Natürlich möchten wir großzügig sein, aber wegen der Wirtschaftskrise können wir es nicht sein.« Eine Formulierung auf Französisch fasst dies zusammen: »Wir können nicht alles Elend der Welt aufnehmen.« Wir müssen mit diesem Diskurs brechen, der nicht die Wirklichkeit widerspiegelt und der an einer Vision der Welt festhält, die die extreme Rechte unterstützt.

Natürlich ist es sehr wichtig, nicht – wie die Rechten es uns unterstellen – der »Naivität« nachzugeben und zu sagen: Alles ist gut und alles steht zum Besten in der besten aller Welten. Es geht darum, zwischen einer rechten und einer linken Einwanderungspolitik zu unterscheiden. Sie sind fundamental verschieden! Allerdings wird heutzutage von linken Parteien oft eine abgeschwächte Version rechter Politik gemacht: etwas weniger hart, etwas offener, etwas wohlwollender, aber im Grunde genommen mit der gleichen Logik, nämlich in der Annahme »Einwanderung ist ein Problem«.

Die Rechte stützt sich auf die Annahme »Einwanderung ist ein Problem« und die Linke kann sich nicht auf dieselbe Idee beziehen, sonst hat sie die Wortwahl der Rechten übernommen und trägt zu ihrer Stärkung bei. Das bedeutet nicht, so zu tun, als ob alles einfach wäre. Aber zu sagen »ja, es gibt Probleme« ist nicht dasselbe wie zu sagen »das ist ein Problem«! Dass Einwanderung ein Problem ist, das denken die Rechten. Wenn wir sagen, dass es Probleme gibt, dann können wir sie lösen. Wenn etwas ein Problem ist, müssen wir es beseitigen.

Vielleicht wird der Unterschied anschaulich, wenn wir ein Thema wie Arbeitslosigkeit mit einem Thema wie Bildung vergleichen: Arbeitslosigkeit wollen wir beseitigen, weil es ein Problem ist; von den Bildungsinstitutionen sagt niemand, wir sollten sie beseitigen, jedoch gibt es Probleme, die wir lösen müssen. Sind wir wie die Rechten der Ansicht, dass Einwanderung ein Problem ist und dass wir sie beseitigen müssen? Oder sind wir als Linke der Ansicht, ja, es gibt Probleme mit der Einwanderung, und wir müssen sie lösen, so wie die Probleme des Bildungssystems?

Ideologisch daran zu arbeiten, diesem Gegensatz zwischen rechts und links eine Bedeutung zu verleihen, das ist das intellektuelle, aktivistische und ideologische Programm für die heutige Linke. Eine Bedeutung, die nicht von vorneherein gegeben ist, sondern die zu jedem Thema neu geschaffen werden muss.

Eine neue Serie politischer Analysen des Brüsseler Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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