»Habt Angst, wir sind alle zusammen«

Bei den neuen Protesten in Iran ist nun auch die Mittelschicht wieder dabei. Was bedeutet dies für die Gesellschaft?

  • Ali Nouri
  • Lesedauer: 5 Min.

»Aus großer Trauer eine große Sache machen.« Das steht auf einer Wand an einer jener Teheraner Straßen, in denen Tausende Menschen am vergangenen Wochenende protestiert haben. Nachdem Iran nach tagelanger Leugnung eingeräumt hatte, das ukrainische Passagierflugzeug mit 176 Menschen an Bord versehentlich abgeschossen zu haben, gerieten Millionen von Menschen in Wut.

Zuerst wollten sich etliche Studierende versammeln und zur Erinnerung an die Opfer, die zum Teil Absolventen und Absolventinnen renommierter Teheraner Universitäten waren, eine Kerze anzünden. Dann kamen auch viele andere noch dazu. Zudem haben einige Persönlichkeiten der Kulturszene über soziale Medien zur Trauerfeier aufgerufen, etwa die Regisseurin Rakhshan Bani-Etemad, die für sozialkritische Filme und Dokumentationen bekannt ist. Einen Tag danach musste sie jedoch ihren Aufruf zurückziehen, weil ihr von den Sicherheitskräften gedroht worden ist. Die Menschen kamen trotzdem. Auch die Regisseurin selbst war dabei. Doch es durfte sich kein Trauermarsch bilden. Es war für das System existenziell, dass die Zahl der Menschen, die für die Opfer des von den Revolutionsgarden verursachten Flugzeugabschusses auf die Straße gehen, nicht größer wird als die Zahl der um den General der Revolutionsgarden Trauernden. Nichts sollte in der Öffentlichkeit als wichtiger wahrgenommen werden als die Ermordung von General Qassem Soleimani. Die Polizei ging mit Tränengas und Schlagstöcken gegen die Menschenmengen vor. Aus Trauer wurde Wut. Das führte zu Protesten gegen das System.

Besonders bemerkenswert bei den jüngsten Unruhen ist, dass die iranische Mittelschicht wieder aktiv geworden ist. Seit Langem, vor allem seit der blutigen Niederschlagung der im Jahr 2009 formierten »Grünen Bewegung«, war diese Schicht bei den Protesten eher abwesend. Auf den Demonstrationen im Januar 2018 und im November 2019 waren es meistens Menschen aus den unteren Schichten der Gesellschaft, die vor allem wegen ihrer wirtschaftlich prekären Lebensverhältnisse protestierten. Der Kern dieser Demos lag nicht in Teheran, sondern in kleineren Städten und in den Provinzen. Während der größte Teil jenes Aufruhrs aus wütenden jungen Männern bestand, waren letzte Woche auch zahlreiche Frauen dabei.

Wie im Jahr 2009 fühlt sich die iranische Mittelschicht wieder vom System belogen. Damals waren viele Menschen der Überzeugung, dass die Präsidentenwahl gefälscht war, und gingen auf die Straßen. Die größte Demonstration war auf der Teheraner Enqelab-Straße, die etwa fünf Kilometer lang ist. Die systemtreue iranische Presse hat die große Zahl der Protestierenden geleugnet oder verschwiegen. Das ist dieselbe Strecke, auf der vor Kurzem die Trauerfeierlichkeit für Soleimani stattfand, begleitet von Heli-Kameras und anderen Propagandamitteln. »Etwa acht Millionen Menschen haben sich an der Trauerfeier für Soleimani in Teheran beteiligt«, berichteten die staatlichen Medien diesmal. Diejenigen, die nicht an dieser Trauerkundgebung teilnahmen, äußerten sich teilweise über die sozialen Medien. »Zumindest wissen wir jetzt, wie viele Menschen 2009 auf der Straße waren«, vermittelte ein Tweet. »Sind die Menschen kleiner geworden oder ist dieselbe Strecke größer geworden?«, lautete ein anderer.

Nun ist es die Mittelschicht, die sich vom Flugzeugabschuss besonders betroffen zeigte. Und wenn diesen Menschen keine öffentlichen Plätze zum Trauern zugestanden werden, zeigen sie ihre Trauer in den sozialen Netzwerken. So wurden Millionen von Profilbildern der Iraner und Iranerinnen weltweit schwarz. Oder mit der Flugnummer des abgeschossenen Flugzeugs PS752 versehen. In diesem entscheidenden Moment war es auch wichtig zu zeigen, wer wen betrauert. Trauertage sollten nicht immer von oben verordnet werden. Jetzt ist es eher die Mitte der Gesellschaft, gemeinsam mit Kunstschaffenden und Prominenten der Kulturszene, die die Trauerzeit bestimmt. Aus Solidarität mit trauernden Menschen haben Künstlerinnen und Künstler als allererstes das staatliche Fajr-Festival boykottiert. Dieses Fest findet jährlich zum Tag der Islamischen Revolution im Februar in Teheran statt, in den Kategorien Film, Theater, Musik und Kunst. In all diesen Bereichen haben Prominente gruppenweise oder einzeln ihre Teilnahme am staatlichen Fest abgesagt. Beispielsweise die Schauspielerin Taraneh Alidoosti, die international etwa durch ihre Hauptrolle in dem oscarprämierten Filmdrama »The Salesman« bekannt ist. Auf Instagram schrieb sie: »Lange wollte ich das nicht glauben, aber wir sind keine Bürger. Das waren wir nie. Wir sind Geiseln. Millionen Geiseln.« Danach sagte sie noch ihre Mitwirkung am Festival ab.

Die ultimative Flucht vor der Religion
Der Fußball verdeutlicht in Iran das ständige Ringen zwischen Reformern und Hardlinern. Das Regime will Proteste in den Stadien verhindern - nicht immer mit Erfolg.

Hinzu kamen noch einige Rücktritte von Moderatoren und Moderatorinnen des staatlichen Fernsehens, das versuchte, als wichtigstes Propagandamedium des Systems den Flugzeugabschuss als »normal« darzustellen, weil man in einer »Kriegssituation« sei. Das ließ die Menschen vor Wut explodieren. Am Donnerstag verkündete der Leiter des Fajr-Filmfestivals, dieses Jahr werde das Fest aus Gründen der Pietät ohne Eröffnungsfeier stattfinden. So streicht das Festival selbst einige Programme. Hauptsache: Nichts darf als Folge des gemeinsamen Boykotts verstanden werden. Daraufhin drohte ein Hardliner-Abgeordneter des iranischen Parlaments den Boykottierenden mit einem Arbeitsverbot. In Reaktion darauf kam es zu einer neuen Boykottwelle. Auf Instagram hat etwa der Schauspieler Hamid Farrokhnezhad seinen Boykott angekündigt und begründet: »Damit Sie lernen, nicht in einem autoritären und drohenden Ton mit Kunstschaffenden zu reden.« Die Obrigkeit will einerseits dringend zur Normalität zurückkehren, nur deswegen beharrt sie darauf, dass staatliche Feste stattfinden sollen. Andererseits herrscht in der Hauptstadt eine Art Ausnahmezustand. Die Straßen Teherans wimmeln von Sicherheitskräften. Das zeigt: Nichts ist mehr normal in Iran.

Dass die Proteste im November 2019 und die im Januar 2020 aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten kommen, macht die einen nicht legitimer als die anderen. Jetzt sind beide Schichten dabei, beide sind wütend, beide unzufrieden. Sie sollten sich zusammenfinden. Eine der bekanntesten Parolen der »Grünen Bewegung« lautete damals: »Habt keine Angst, wir sind alle zusammen.« 2020, circa zehn Jahre später, war die Parole wieder zu hören, die sich jedoch etwas geändert hat: »Habt Angst, wir sind alle zusammen.« Diese kleine Änderung hat eine große Bedeutung.

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