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Appell im Büßergewand
DIE STIMME DER VERNUNFT: Leo Fischer erklärt, wie künftig mit den Briten zu verfahren ist
Im Meinungszirkus der Medien regieren heute überwiegend Clowns, Feuerspucker und Tanzbären. Die sachliche, wohlabgewogene Meinung bleibt auf der Strecke, wo das Publikum unentwegt die rabiatesten Schreihälse belohnt - über das gesamte politische Spektrum hinweg. Diese Kolumne stellt sich gegen den Trend: Unter dem neuen Titel »Die Stimme der Vernunft« wird unser Autor Leo Fischer künftig 14-tägig den Extremforderungen überdrehter Brülläffchen mit gemessener, kühler Distanz und konkreten Handlungsempfehlungen begegnen - eine Punica-Oase inmitten der teils blutigen Hahnenkämpfe unserer Zeit.
Heute vollendet sich der Brexit. Nach einem gefühlt Jahrzehnte anhaltenden Austrittstheater, drei bis sieben gescheiterten Regierungen und dem Rücktritt von Prinz Harry von seinem Milliardenerbe sind die Briten endlich da, wo sie sein wollten: im politischen Aus. Die britischen Inseln, sie liegen heute ferner den je, der Marianengraben zwischen Dover und Calais, er ist tiefer, bedrohlicher geworden, voll trübem Schlick und ekliger Tentakelmonster (Kaiju), die jederzeit ausbrechen und uns alle verschlingen können.
Noch sind die Änderungen für die Bürger der EU überschaubar: Bis zum Jahresende bleibt das Vereinigte Königreich Mitglied des »Stahlpakts«, dem gemeinsamen Vertragswerk, das unter anderem die Eurovisions-Hymne festlegt, und wird auch weiterhin in die gemeinsame Kaffeekasse der EU einzahlen. Doch spätestens zum Jahresende werden sich drastische Änderungen einstellen: Englisch ist dann nicht mehr Amtssprache der EU, der Unterricht in dieser Sprache wird verboten, sämtliche bisher noch englisch gehaltenen EU-Dokumente müssen zurück ins Französische übersetzt werden. Auch darf die Kommissionspräsidentin protokollarisch nicht mehr mit »hi girl, what’s up« begrüßt werden.
Britische Waren werden unter teils mörderische Strafzölle gestellt, so dass der wertvolle Rohstoff Marmite (Jahresverbrauch allein in Deutschland: 300 Millionen Tonnen) künftig durch billige belgische Imitate ersetzt werden muss (»marmou«). Blätter wie »Gala« und »Bunte« dürfen laut Gesetz nicht mehr von den »Royals« berichten, sondern nur mehr von »unregistrierten Despotinnen aus Nicht-EU-Ländern mit einem Blaublutanteil über 40 %«. Schon jetzt nehmen keine britischen Regierungsmitglieder mehr an Sitzungen der EU-Gremien teil, britische Beamte, die sich noch in Brüssel befinden, haben bis zum April Zeit, öffentlich auf ein Porträt Boris Johnsons zu urinieren, um ihren Übertritt zur Wertegemeinschaft EU zu signalisieren - danach gelten sie als vogelfrei.
Wie soll die EU weiter umgehen mit den renitenten Insulanern - und der unter ihnen leider weit verbreiteten Vorstellung, ein von Berlin aus regiertes neoliberales EU-Imperium sei eventuell nicht ausschließlich das große Friedensprojekt, als dass es sich gerne darstellt? Am vernünftigsten wäre jetzt eine militärische Seeblockade um die britischen Inseln - sie wird dem Vereinigten Königreich zeigen, dass die EU ein den universellen Menschenrechten verpflichtetes Unternehmen ist, jedenfalls für Mitglieder. Um den unseriös tändelnden Boris Johnson weiter bloßzustellen, sollte er künftig in einer Art weißem Büßergewand zum Appell bestellt werden, wenn er mit großen Staatsmännern vom Schlage eines Günther Oettinger oder Markus Söder parlieren muss.
Nur durch komplette Ignoranz und konsequente symbolische Abwertung können die europäisch-britischen Beziehungen wieder in einen Stand versetzt werden, in welchem würdevolle Begegnungen auf Augenhöhe möglich werden.
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