Koalitionsvertrag: Der alte Atomstaat dreht eine Ehrenrunde

Leo Fischer entblößt die Sinnlosigkeit der Obsession von Union und SPD für die Kernfusion

Der französische Forschungsreaktor Iter hat schon Milliarden gekostet, soll aber frühestens 2036 in Betrieb gehen.
Der französische Forschungsreaktor Iter hat schon Milliarden gekostet, soll aber frühestens 2036 in Betrieb gehen.

Die vielen Schwächen des Koalitionsvertrags werden derzeit rauf- und runterverhandelt. Eine Kuriosität unter vielen ist sein Fokus auf Kernfusion. »Wir wollen die Fusionsforschung stärker fördern«, steht da. »Unser Ziel ist: Der erste Fusionsreaktor der Welt soll in Deutschland stehen.« Die Fusion ist den Koalitionspartner*innen so wichtig, dass sie dem gesamten Passus zur ökologischen Stromerzeugung vorangeht: »Fusion und klimaneutrale Energieerzeugung« heißt die Überschrift. Und: »Wir regulieren die Fusionskraftwerke außerhalb des Atomrechts.«

Leo Fischer
Leo FischerFoto ist privat, kein Honorar

Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der Öffentlichkeit nützliche Vorschläge. Alle Texte auf: dasnd.de/vernunft

Was ist das für eine Obsession für die Fusion? In einem längst vergangenen Jahrhundert schaltete die Atomindustrie in Wissenschaftsmagazinen wie »P.M.« großflächige Anzeigen. Die waren oft von einer seltsamen Zerknirschtheit – denn natürlich konnte man dem weitgehend progressiv gesinnten Publikum dieser Zeitschriften nicht suggerieren, die Atomkraft sei eine Lösung für irgendwas. Deswegen wurde die Fiktion der Brückentechnologie bemüht: Atomkraft sei zwar schlecht, aber Bindeglied zu einer künftigen, nahezu unerschöpflichen, risikofreien und praktisch kostenlosen Energieform: der Kernfusion! Sie war die glitzernde Stadt auf dem Hügel, die es zu erreichen galt – auch wenn zuvor die verstrahlten Täler der Kernspaltung durchquert werden mussten.

Die Fusionsforschung mag bedeutende Fortschritte machen und wichtige Erkenntnisse liefern. Die kommerzielle Energieversorgung durch Fusion ist jedoch immer noch reine Science-Fiction. Der französische Forschungsreaktor Iter hat seit seiner Gründung im Jahr 2007 Milliarden verschlungen – und soll frühestens 2036 in Betrieb gehen. Es ist völlig illusorisch, dass in den nächsten Jahren ein funktionierender Fusionsreaktor auf deutschem Boden entsteht; ebenso illusorisch ist der Einfluss aufs Klima: Für das Zeitfenster, in dem die Klimakatastrophe noch sinnvoll beeinflusst werden kann, ist die Bereitstellung von Fusionsenergie in keinem Fall mehr erreichbar – ja es ist noch nicht mal sicher, ob Fusion überhaupt jemals wirtschaftlich sein kann. Um diese ungewisse Wette auf die Zukunft zu machen, werden jetzt dennoch Milliarden freigestellt – obwohl es bereits Technologien gibt, deren Klimatauglichkeit zweifelsfrei feststeht.

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Doch die Atomlobby setzt weiter auf die vermeintliche »Brückentechnologie« – denn sie legitimiert damit ihre eigenen Strukturen. Wo man auf Fusion schielt, lässt man AKWs in Ruhe, können gar Gelder aus Klimafonds in den Nuklearbereich verschoben und Solar und Wind vorenthalten werden. Die Regulierung von Fusionskraftwerken außerhalb des Atomrechts soll auch dazu beitragen, sich unangenehmer Fragen zu entledigen, die mit der Kernenergie verbunden sind. Politische und gesellschaftliche Widerstände können reduziert werden: Ist ja alles fürs Klima.

So dreht der gute alte Atomstaat noch mal eine Ehrenrunde: eine weitere Vision aus den 90ern, die uns als heißer Scheiß verkauft werden soll.

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