- Politik
- Bürgertum
Flexibel konservieren
Die Krise der »Bürgerlichen« folgt den Konjunkturen des Kapitals.
Dammbruch, Desaster, Tollhaus: Empörung und Ratlosigkeit bestimmten die Reaktionen auf die Ereignisse von Thüringen. In dieser Woche trafen sie mit voller Wucht die CDU. Am Montag kündigte Annegret Kramp-Karrenbauer an, den CDU-Vorsitz abzugeben und nicht als Kanzlerkandidatin der Union anzutreten. Als angemessen empfinden viele diesen Schritt. Und doch mischt sich in die Kommentare ungläubiges Staunen. Zum Verständnis der Vorgänge hilft ein Blick in die Geschichte - und über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus. Denn in vielen Ländern sind nicht nur die Sozialdemokratien krisengeplagt. Auch die traditionellen bürgerlichen, konservativen Parteien sind zunehmend gespalten und sortieren sich neu.
Und das nicht zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte: »Verwirrt und zerstritten« geraten die Konservativen aneinander - so beschrieb der »Spiegel« vor 45 Jahren, im Februar 1975, die Vorsitzendenwahlen der britischen Tories. Damals gewann, überraschend, die als Außenseiterin geltende Margaret Thatcher. Sie richtete die kriselnde konservative Partei in den folgenden Jahren radikal neu aus, getragen von einer »New Right« in der Partei, die den Nachkriegskonsens aufkündigen wollte. Vier Jahre später wurde Thatcher Premierministerin und 1981 der Republikaner Ronald Reagan Präsident der USA. Gemeinsam veränderten sie den Konservatismus der Nachkriegsära - nachhaltig und auch in der Bundesrepublik von Union und FDP rezipiert.
Die ökonomischen Wurzeln
Die politische Wende hatte ökonomische Ursachen. Die 1970er Jahre waren für die westlichen Industriestaaten eine Übergangszeit: Der Nachkriegsboom endete, das Wachstum brach ein. Verschärft wurde diese Entwicklung durch die Ölkrisen Mitte und Ende des Jahrzehnts. Damit geriet das fordistische Akkumulationsmodell und der korporatistische Wohlfahrtsstaat spätestens ab 1973 an Grenzen. Zwischen Ende der 1960er und Mitte der 1970er Jahre stieg die Inflationsrate in Deutschland von knapp zwei auf über sieben Prozent, in den USA kletterte sie auf zehn und in Großbritannien sogar über 20 Prozent. Die Arbeitslosenrate stieg von vier auf neun Prozent in den USA, in Großbritannien verdoppelte sie sich auf sechs Prozent.
Als Reaktion auf die Krise verhalfen die bürgerlichen Traditionsparteien - allen voran in den USA und Großbritannien - einem neuen Modell zum Durchbruch, das seine Kritiker später als Neoliberalismus bezeichneten. »Change is coming«, versprach Thatcher, und die US-Republikaner warben für die »Reagan Revolution«. Beiden gemeinsam war eine Schwächung der Gewerkschaften, Privatisierungen, Streichung von Sozialausgaben und eine strikte Politik der Inflationsbekämpfung. Dies war allerdings nicht die geradlinige Umsetzung eines neuen Kapitalismus, der am Schreibtisch ersonnen worden war, sondern eher die Summe von Reaktionen auf zahlreiche Konflikte, etwa Massenstreiks, die mit der Krise des Fordismus einhergingen.
Die Ära des Neoliberalismus brachte hohe Wirtschaftswachstumsraten. Inzwischen aber schlägt das Pendel zurück: Mit der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise ist der Kapitalismus seit 2008 erneut in eine Übergangsphase eingetreten - auch sie begleitet von vielschichtigen Konflikten. Wiederum sind es die USA und Großbritannien, in denen darauf reagierend und zugleich mit Bedürfnissen unterschiedlicher Kapitalfraktionen konfrontiert die Republikaner und Tories zunächst in Krisen gestürzt sind und sich dann clownesken Radikalen unterworfen haben, die unter anderem mit protektionistischeren Modellen experimentieren - Kollateralschäden wie der Brexit sind Begleiterscheinungen dieser Entwicklung. Für die USA beschrieb der Harvard-Historiker Gary Gerstle es mit Blick auf die Wahl Donald Trumps 2017 so: »Beobachter der Szene beruhigten sich früher damit, dass es immer noch ein republikanisches Establishment gebe, das die Radikalen notfalls zurückpfeifen werde. Dieses Establishment gibt es nicht mehr. Eine Reihe rivalisierender Machtzentren sind an seine Stelle getreten.«
In Österreich erfolgte der Tabubruch bereits im Jahr 2000 mit der ersten schwarz-blauen Koalition. Um 2017 herum vollzog die konservative ÖVP eine beschleunigte Wandlung, mit der sie das Programm der rechten FPÖ in vielen Punkten zu ihrem machte. Inzwischen zeigt sie sich äußerst flexibel und hat statt mit den extrem Rechten eine Koalition mit den Grünen geschmiedet. Die »Zerrissenheit der Traditionsparteien - sowohl der Sozialdemokratie, als auch der christlich-sozialen Parteien - zwischen ihren weltanschaulichen Wurzeln und dem neoliberalen Zeitgeist« beschädige diese Parteien langfristig, sagte 2017 der österreichische Ökonom Stephan Schulmeister. Die Rolle des Kanzlers Sebastian Kurz bestehe darin, »die ÖVP für eine gewisse Zeit zu einen, indem die Widersprüche zugekleistert werden«.
In Frankreich wiederum lässt sich eine regelrechte Auflösung der Konservativen Partei beobachten. Kein Trump, kein Johnson und kein Kurz ist dort in Sicht, die Partei nur noch ein Schatten ihrer selbst. Vorläufiger Tiefpunkt waren die Europawahlen im vergangenen Mai, bei denen Les Républicains mit 8,5 Prozent der Stimmen erstmals einstellig abschnitten. Offen ist, ob sich die Partei je erholen wird oder sie sich mit dem Aufstieg von Emmanuel Macrons Partei REM schon überflüssig gemacht hat.
Die Identitätskrise hat also auch die Konservativen ergriffen. »Die Union ist einer ähnlichen Gefährdungslage wie die SPD«, konstatierte diese Woche CDU-Politiker Friedrich Merz. Allerdings ist hier die soziale Basis der Suchbewegungen quasi entgegengesetzt zu der, die den Sozialdemokraten zu schaffen macht. Letztere sind entstanden als Arbeiterparteien. Mit dem Ende des Fordismus und den Veränderungen bei den Lohnabhängigen - etwa Verlagerungen aus der Montanindustrie in den Dienstleistungsbereich - stellten sich für sie Fragen neu, die vielfach in fataler Weise beantwortet wurden, nämlich mit der neoliberalen Wende durch New Labour und Agenda 2010. Die Konservativen indes sind programmatisch traditionell Parteien des Bürgertums und damit Spiegel der Konflikte unterschiedlicher Kapitalfraktionen, die sich in Krisenzeiten oder Übergangsphasen verstärken und deren Pole sich in Deutschland auch in AfD und Grünen verkörpern - die Union sucht ihren Platz zwischen beiden. Das lässt die politischen Grenzen verschwimmen und macht neben anderem begreiflich, warum laut Umfragen 74 Prozent der CDU- und 70 Prozent der FDP-Anhänger in Thüringen finden, Bodo Ramelow leiste gute Arbeit.
Von Merkel zu Thatcher
Auf den ersten Blick erscheint das Agieren von CDU und FDP im Fall Thüringen selbstzerstörerisch und grandiosen Fehleinschätzungen geschuldet zu sein. Doch geht es den »bürgerlichen« Parteien derzeit um mehr, als bloß den Wählern zu gefallen: um Grundsätzliches, um die Ausrichtung der Union, deren Aufgabe es vor allem ist, das Gerüst des deutschen Kapitalismus zu erhalten, zu pflegen, wenn nötig zu erneuern, zu reparieren. »Man darf sich nicht täuschen«, schrieb kürzlich der Journalist Markus Decker, »in der CDU hat eine große Auseinandersetzung begonnen darüber, ob sie eine anständige christlich-konservative Partei bleibt - oder eine deutsche Tea Party.«
In den kommenden Wochen wird die Frage, was Konservatismus ausmacht, häufiger auf den Tisch kommen. Ein Blick zurück und über die Grenzen zeigt: Auch wenn er sich das Bewahren des Bestehenden auf die Fahnen geschrieben hat, ist der Konservatismus doch sehr wandlungsfähig. Das muss er auch sein, wenn man ihn als Bewahrer des Kapitalismus versteht, der historisch wandlungsfähigsten Produktionsweise überhaupt. Mit ihm geraten die konservativen Traditionsparteien in Krisen und verändern sich. Anderswo ist das schon weit fortgeschritten, die Bundesrepublik hängt hier eher hinterher, sicherlich auch, weil sie mit ihrem Exportmodell bislang gut gefahren ist.
Angela Merkel wird nachgesagt, sie habe den Konservatismus kulturell liberalisiert und damit seines Markenkern beraubt. Doch genauer betrachtet erweist sie sich als gute Konservatorin: nämlich jenes Erbes, das die Schröder-Regierung ihr vor fast 15 Jahren hinterlassen hatte. Das aber scheint einer wachsenden Minderheit der Vertreter des Bürgertums nicht mehr zu genügen. Lauter werden die Klagen über »Stillstand«. Einige Unternehmer fordern den wirtschaftsliberalen Friedrich Merz als CDU-Chef. Warnungen vor eine Wirtschaftsrezession tun ihr übriges, um manchen die Neuausrichtung der CDU notwendig erscheinen, sie nach einer Führung rufen zu lassen, die in Bündnisfragen flexibel ist wie Kurz in Österreich. Und die wenn nötig die Merkelsche Konsensorientierung aufbricht. Unter anderen Vorzeichen, aber ähnlich wie im Februar 1975 in Großbritannien.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.