Feindesliste lag im Papierkorb

Verdächtiger Nazi besaß 500 Datensätze - Polizei konnte gelöschte Infos wiederherstellen

  • Martin Kröger
  • Lesedauer: 4 Min.

Was genau im Zwischenbericht der Besonderen Aufbauorganisation (BAO) »Fokus« der Berliner Polizei zur rechtsextremen Terrorserie in Neukölln steht, ist geheim. »Wir wollen maximale Transparenz, gleichzeitig müssen wir die laufenden Ermittlungen schützen«, erklärte Innensenator Andreas Geisel am Montag im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses. »Vor allem müssen wir die Täter schnappen, diesem Ziel muss alles untergeordnet werden.« Der SPD-Politiker hatte den Zwischenbericht daher mit dem Geheimhaltungsgrad »VS-Vertraulich« versehen, die Abgeordneten konnten deshalb nur im Geheimschutzraum Einblick nehmen.

Von der Opferberatung Reach Out, aber auch von einigen Abgeordneten wurde die Geheimhaltungspraxis des Senats scharf kritisiert. »Dass der Bericht zur bisherigen Arbeit der BAO ›Fokus‹ nun zur Verschlusssache erklärt wurde, ist empörend«, so Reach Out in einer Pressemitteilung. »Das ganze Vorgehen ist kein gutes Signal an die Öffentlichkeit und die Betroffenen«, kritisierte auch der Innenexperte der Linksfraktion, Niklas Schrader, in der Innenausschuss-Sitzung.

Seit einigen Jahren werden in Neukölln immer wieder Menschen Opfer von Brandanschlägen und Bedrohungen, die durch mutmaßlich rechtsextreme Täter ausgeführt werden. Insgesamt 72 Straftaten werden laut Polizei zu der Serie gezählt. Aufgrund des hohen öffentlichen Drucks wegen der unaufgeklärten rechten Terrorserie in Neukölln entschieden sich die Innenbehörden, kurzfristig zumindest einen gekürzten Zwischenbericht zum Stand der Ermittlungen vorzulegen.

Demnach wertet die im Mai 2019 neu aufgestellte Aufbauorganisation unter anderem 2800 Brandstiftungen im Bereich der Polizeidirektionen 5 und 6 aus. Die Anzahl von 63 Straftaten, die die BAO ursprünglich in dem Komplex bearbeitete, erhöhte sich durch die Arbeit der neuen Ermittler auf inzwischen 72. »Die drei Tatverdächtigen betrieben akribische Aufklärung - und spähten den politischen Gegner aus«, sagte Polizeipräsidentin Barbara Slowik.

Welche Datensätze dadurch offenbar erstellt wurden, legte der Leiter der Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamtes, André Rauhut, den Abgeordneten des Ausschusses dar. Demnach konnte bei einer Hausdurchsuchung im Februar 2018 bei dem verdächtigen Neonazi Sebastian T. ein Datenträger beschlagnahmt werden. Die auf der Festplatte befindliche »Ordnerstruktur« konnten die Behörden allerdings erst im November 2019 finden - obwohl die Polizei den Datenträger bereits im Sommer 2018 ausgewertet hatte.

»Unglücklicherweise ist dabei diese Struktur nicht gefunden worden«, sagte Rauhut. »Das ist so gewesen, dass sich diese Ordnerstruktur als gelöschte Ordnerstruktur im Papierkorb befunden hat, und wir sie erst im November 2019 da aufgefunden haben.« Berlins Polizeipräsidentin Slowik ergänzte wenig später, dass sich die Daten im Papierkorb eines bereits gelöschten Betriebssystems befunden hätten. Diese Daten konnte die Polizei inzwischen wiederherstellen, sie sollen aus dem Jahr 2013 stammen oder sogar noch älter sein. Dazu zählt auch eine Feindesliste, auf der sich unter anderem der Name der Linke-Politikerin Anne Helm befindet (»nd« berichtete). Weil die Daten so alt sind, sieht die Polizei derzeit jedoch »keine konkreten Gefährdungen«.

Aufgrund dessen wurden offenbar auch noch nicht alle Betroffenen - unter anderem Antifaschisten, Politiker, Journalisten und Polizisten - von den Behörden über ihre Ausspähung durch Neonazis informiert. »Der Wunsch der Betroffenen ist es, dass sie endlich diese Informationen erhalten - vollständig und schriftlich, einschließlich der Fotos, die über sie dokumentiert wurden«, so Reach Out. »Erst dann können sie beurteilen, ob für sie, ihre Mitbewohner und ihre Familien noch eine Gefahr bestehen könnte beziehungsweise welche weiteren Schritte sie unternehmen, um die Gefahren zu reduzieren«, sagte Sabine Seyb von Reach Out.

Am Montag räumte die Polizeiführung unterdessen auf die zahlreichen Nachfragen der Abgeordneten in der Innenausschusssitzung Fehler im Zusammenhang mit den Neuköllner Taten ein. So hätte etwa der Neuköllner Linke-Politiker Ferat Koçak, dessen Auto im Frühjahr 2018 mutmaßlich von Neonazis angezündet wurde, durchaus früher von der Polizei gewarnt werden können. »In der Tat hätte die Polizei die Möglichkeiten gehabt. Sie hat gezögert aufgrund des Hinweises des Verfassungsschutzes«, erklärte Polizeipräsidentin Slowik.

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