Anstelle der Imperien

Der Neoliberalismus als postkoloniales Projekt.

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 5 Min.

Manchmal machen Nebensachen die Geschichte am deutlichsten. Ein Beispiel ist das Haus in Genf, in das 1995 die frisch gegründete Welthandelsorganisation (WTO) einzog. Bis 1977 hatte dort die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ihren Sitz und danach das Sekretariat des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT). Aus der Abfolge der Gebäudenutzer spricht quasi die Agenda dessen, die man das »neoliberale Projekt« nennen kann: die Überlagerung von Gewerkschafts- und Beschäftigtenrechten durch ein System supranationaler Institutionen, die das Kapital vor einschränkenden Maßnahmen schützen.

In der landläufigen Kritik herrscht dagegen ein anderes Bild. Für »Neoliberale« hält man hier meist Kräfte, die einen weltweiten Laissez-faire-Kapitalismus, sich selbst regulierende »Märkte« und schlanke Bürokratien propagieren - und dies durch das kontrafaktische Menschenbild des rational nutzenmaximierenden »Homo oeconomicus« ideologisch abstützen.

Es ist das Verdienst des kanadischen Historikers Quinn Slobodian, dieses Zerrbild in seinem jüngst übersetzten Buch »Globalisten« so fundiert wie lesbar zu korrigieren: Die historischen Neoliberalen - er meint jenen sich selbst bisweilen so nennenden Ideen- und Personenzusammenhang einer »Genfer Schule«, die sich zunächst um die österreichischen Ökonomen Ludwig Mises und August Hayek, die mächtige Mont Pèlerin Society und etwa den deutschen Hayek-Schüler Wilhelm Röpke scharte - haben nie behauptet, dass »dem Menschen« an sich eine ökonomisierte Zweckvernunft innewohne - eher im Gegenteil. Sie glaubten »keineswegs an sich selbst regulierende Märkte als eigenständige Gebilde«. Sie dachten zwar immer im Weltmaßstab, waren in diesem Sinn aber keine »Marktfundamentalisten«.

Dieser historische Neoliberalismus prägte sich im 20. Jahrhundert anhand dreier epochaler Einschnitte: Ausgangspunkt war der Zusammenbruch der mitteleuropäischen Imperien nach dem Ersten Weltkrieg - zumal der Habsburgermonarchie, in der Mises und Hayek aufgewachsen waren. In den Imperien konnten Kapital und Güter zuvor »frei« flottieren. Das hatte nun ein Ende. Stattdessen setzte etwas ein, das die Neoliberalen als »Politisierung« der Wirtschaft alarmierte: Die Demokratisierung führte zu sozialpolitischen Eingriffen ins Privateigentum an Produktionsmitteln, was zumal den Österreichern im »Roten Wien« plastisch vor Augen stand. Und die neuen Staaten Mitteleuropas versuchten oft, sich in ihrem wirtschaftlichen Unabhängigkeitsstreben durch Zölle zu schützen, wenn sie nicht nach »Autarkie« strebten. Politische Rivalitäten mit den alten Vormächten verstärkten einen Hang zu »Handelskriegen«, etwa zwischen Deutschland und Polen in der Zwischenkriegszeit.

Der zweite Einschnitt war die Weltwirtschaftskrise von 1929. Die Neoliberalen zogen daraus vor allem eine praktische Konsequenz - nämlich die, dass sich »Weltwirtschaft« theoretisch im Grunde nicht durchdringen lasse. Es komme vielmehr darauf an, einen möglichst stabilen Rahmen für die Aufrechterhaltung des globalen Kapitalismus zu konstruieren. So wurden die Neoliberalen zu juristisch-politischen Akteuren nicht eines Ab-, sondern eines massiven Aufbaus von »Bürokratie« - all jener supranationalen Institutionen von wirtschaftlicher »Governance«, die bis heute bestehen und wirken. Wollte der »Ordoliberalismus« eine »Wirtschaftsverfassung« auf nationaler Ebene, übertrug der Neoliberalismus das auf die ganze Welt.

Der dritte Einschnitt aber war für die Neoliberalen nicht etwa der Zweite Weltkrieg oder die Blockkonfrontation; damit, das macht Slobodian deutlich, befassten sie sich erstaunlich wenig. Geradezu alarmiert aber waren sie von der Dekolonisierung.

In der Frage, ob Kolonisierte sich politisch selbst regieren sollten, waren sie gespalten - wenn auch viele von ihnen etwa für Südafrika ein »Rassenwahlrecht« wollten. Glasklar aber blieb ihre Haltung bezüglich jener »Politisierung von Wirtschaft«, die sie schon in den 1920ern umgetrieben hatte. Solchen Bestrebungen sagten sie den Kampf an - und aufgrund ihrer Beschäftigung nicht nur mit, sondern auch in den supranationalen Institutionen hatten sie dazu die Macht.

Der Gegner war die »Neue Weltwirtschaftsordnung« (NWWO), eine Art Paket von Forderungen des Südens nach Umverteilung im Weltmaßstab. Einzelne UN-Beschlüsse kamen dem entgegen. Die Neoliberalen aber schlugen zurück, etwa im Rahmen des Güterhandelsregimes GATT und seiner Erweiterung auf Dienstleistungen (GATS) sowie »geistiges Eigentum« (TRIPS). Und die Gründung der WTO als Dachorganisation all dessen markierte den einstweiligen Sieg dieses Postkolonialismus. Ihr Grundzweck war, so Slobodian, zu »verhindern«, dass »die wirtschaftliche Dekolonisierung, wie sie den Prozess nannten, die Weltordnung in der Peripherie zu zersetzen begann«.

Dass in der nun wieder auflebenden wissenschaftlich-politischen Kritik am »Postkolonialismus« all das kaum eine Rolle spielt - und jene »Dependenztheorien«, die nach 1970 um die NWWO entstanden, vergessen sind -, hat einmal innerakademische Gründe: Generell wurde Kritik in die Kulturwissenschaft abgedrängt.

Zweitens aber, das zeigt Slobodian anschaulich, badete das postkoloniale Weltwirtschaftsregime nach seiner Erschütterung durch die Massenproteste gegen die WTO in Seattle 1999 gezielt im Vokabular einer entfernten Stiefcousine, nämlich des politischen Liberalismus. So werden zentrale Features der globalen Kapitalherrschaft in zynisches Gerede von »Diskriminierungsverboten« gegen ausländische Investitionen verpackt - und scheint auch die alte Rhetorik der Neoliberalen wieder zu wirken: Ihren Kampfbegriff »Wirtschaftsnationalismus« etwa, der oft demokratische Bestrebungen abwehren sollte, unterschreiben wegen des »Nationalismus« auch viele Irgendwie-Linke.

Insofern bestünde ein deutscher Beitrag zur Kritik des postkolonialen Verhältnisses nicht nur im Kampf um Straßennamen und Kunstobjekte, sondern in einer Wiedervergegenwärtigung dieser juristisch-politisch-ökonomischen Dimension - deren historische Basistexte im Original ja nicht selten auf Deutsch vorliegen. Und die klar machen, dass die Arbeiterklassen im Norden und die Welt des Südens, die oft gegeneinander ausgespielt werden, am Ende den gleichen Gegner haben.

Quinn Slobodian: Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus. Suhrkamp, 520 S., geb., 32 €.

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