- Politik
- Flucht und Migration nach Europa
Corona und das Leid der Flüchtlinge
ZWISCHEN HIMMEL UND HÖLLE - Teil fünf des Tagebuchs von der türkisch-griechischen Grenze
»Öffnen Sie die Tore«, und »beenden Sie ihre imperialistische Politik in Syrien«, fordert der ältere Herr im roten Partei-Leibchen. Ihm gegenüber filmt ein einsamer Kameramann des türkischen Fernsehsenders »Haber Türk« die kleine Versammlung an der Auffahrt zur Schnellstraße. Nach rund fünf Minuten beendet der ältere Herr seine Rede mit einem Appell zur Corona-Epidemie. Tausende Menschen kämpften ohnehin schon unter unhygienischen Bedingungen ums Überleben. Notwendig seien jetzt »Maßnahmen, um zu verhindern, dass sich der Coronavirus auch unter den Flüchtlingen ausbreitet.« Kurz darauf packen er und seine rund 20 Genossen ihre Fahnen wieder ein, steigen in ihre Autos und fahren davon.
Die kleine Gruppe Sozialisten von der türkischen Sol Parti gehören zu den wenigen, die sich dieser Tage noch für die Flüchtlinge an der griechisch-türkischen Grenze interessieren. Dabei bietet deren Lage alle Bedingungen, die ein entschlossenes Handeln in der Corona-Krise verlangt: Während auf der ganzen Welt Menschenansammlungen über 1000, 50 oder fünf Leuten verboten und das Einhalten von zwei Meter Mindestabstand gefordert wird, leben im Camp Pazarkule weiter 15.000 Menschen auf engstem Raum beieinander - unter katastrophalen humanitären Bedingungen und mit kaum medizinischer Versorgung.
Doch auf Ankündigungen von zuständigen Politikern, die Grenzen zu öffnen, das Camp aufzulösen und die Menschen geordnet und dezentral unterzubringen, wartet man auch in der Corona-Krise vergebens. Stattdessen nutzen Politiker beiderseits des Grenzzauns den neuartigen Coronavirus als Rechtfertigung um so weiter zu machen wie eh und je. Während der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis vergangene Woche ankündigte, dass zur Eindämmung des Viruses, Flüchtlingen jetzt erst recht die Einreise verwehrt werde, haben türkische Behörden ihre Kontrollen am Lager nochmals verschärft und lassen nun kaum noch Menschen aus dem Camp heraus. Bei einigen Flüchtlingen, die seit über zwei Wochen hier ausharren, wecken solche Äußerungen unrealistische Hoffnungen. »Ich glaube, sobald die Sache mit Corona überstanden ist, werden sie für uns die Grenzen öffnen«, erzählt mir eine junge Afghanin.
Auch die meisten Reporter haben mittlerweile das Interesse verloren und die Gegend verlassen. Auch ich werde bald zu ihnen gehören: Weil es aufgrund der zunehmenden Restriktionen gegenüber Journalisten kaum noch möglich ist, über die Situation an der Grenzen zu berichten. Und wegen Corona. »Türkei stellt Flüge von und nach Deutschland ein«, titeln plötzlich viele Medien. Einen Abend lang telefoniere ich mit Botschaftsmitarbeitern, warte in Schleifen von Fluggesellschaften, checke die Verbindungen von Bussen und Bahnen über Osteuropa und den Balkan. Bald stelle ich fest, dass es auch über Land kein Durchkommen mehr gibt.
Am nächsten Morgen ruft die Fluggesellschaft an und teilt mir mit, dass am darauf folgenden Tag doch noch ein paar Flüge nach Deutschland gehen. Auch, weil zu Hause zwei Kinder in »Corona-Ferien« auf mich warten, beschließe ich schließlich das Angebot anzunehmen. Einmal noch droht meine Heimreise zu scheitern: Weil überall in der Türkei Studenten auf dem Weg von ihren geschlossenen Universitäten nach Hause sind, sind sämtliche Busse ausgebucht. Dann finde ich doch noch einen Weg, rechtzeitig zum Flughafen nach Istanbul zu kommen.
Den Tausenden Menschen am griechisch-türkischen Grenzübergang Pazarkule bleibt unterdessen die Ausreise weiter verwehrt. Ein Stück weit hat das vielleicht doch auch etwas mit der Corona-Epidemie zu tun. Nicht, weil die Menschen eine ernsthafte gesundheitliche Gefahr für irgendjemanden darstellen würden. Bis heute gehört die Türkei zu den Ländern mit den niedrigsten Zahlen an Infizierten. Im Camp Pazarkule gibt es bis heute keinen einzigen bestätigten Corona-Fall. Der Zusammenhang mit dem Virus ist eher ein indirekter: Die Sorge um eine mögliche humanitäre Katastrophe durch das neuartige Coronavirus hat viele Menschen real existierende Notlagen wie die in Pazarkule vergessen lassen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.