Risikogruppe Arme

Soziale Ungleichheit kann tödlich sein. Das Coronavirus wird uns das schmerzlich zeigen, meint Fabian Hillebrand

  • Fabian Hillebrand
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Bewohner der kleinen Elbinsel Veddel in Hamburg trennen nur ein paar S-Bahn-Stationen von den wohlhabenden Vierteln am Nordufer der Alster. Geografisch trennen nur wenige Kilometer die Menschen. Gleichzeitig existiert eine riesige Kluft zwischen den Bewohnern der alten Arbeitersiedlungen und der Oberschicht der Elbmetropole. Zehn Jahre weniger Lebenszeit haben die Menschen im Arbeiterkiez zur Verfügung, laut den Aussagen der Poliklinik Veddel.

Zehn Jahre weniger Zeit, um die Rente zu verjubeln und das Leben zu genießen. Eine ganze Dekade! Die Essenz hinter dieser Zahl: Soziale Ungleichheit kann tödlich sein. Diese Einsicht wird uns das Coronavirus noch einmal schmerzhaft gewahr werden lassen.

Wenn wir über Gesundheit diskutieren, dann erscheint diese oft als individuelle Ressource. Ihre Erhaltung liegt in der Verantwortung des Einzelnen. Machst du Sport? Ernährst du dich gesund? Hast du geraucht und wenn ja, wie viele Jahre? Im Unterholz dieser scheinbar harmlosen Fragen gärt ein durchweg neoliberaler und individualistischer Gedanke: Nicht der Staat ist dafür verantwortlich, die Gesundheitsfürsorge einer Gesellschaft zu organisieren und genügend Intensivbetten zur Verfügung zu stellen. Der Kranke selber steht in der Verantwortung, sich fit und gesund zu halten. Wer krank wird, hat vielleicht auch einfach zu viel gesoffen und gefressen, anstatt seine Zeit in der Yogaposition des herabschauenden Hundes verbracht zu haben. Aber stimmt das nicht auch ein bisschen? Sind Faktoren wie Ernährung und Sport nicht entscheidend für ein gelungenes und gesundes Leben?

Studien verweisen regelmäßig auf die lebensverlängernden Effekte von Sport und Ernährung. Logisch! Aber unter der Oberfläche dieser gleichermaßen von Lifestyle-Instagramkanälen, Boulevardmagazinen und Diätberaterinnen getrommelten Erkenntnisse schwimmt eben doch die soziale Ungleichheit als entscheidende Komponente.

Am Ende entscheiden vor allem soziale Determinanten über die Gesundheit. Der Mensch kann noch so sehr strampeln, um die Werte in seiner Fitnessuhr zu verbessern, im Resultat werden Faktoren wie der Arbeitsplatz, die Wohnsituation, der Aufenthaltsstatus und die Klassenzugehörigkeit sein Leben deutlich mehr prägen, diese Privilegien entscheiden nämlich maßgeblich darüber, ob jemand überhaupt Zugang zu einem gesunden Lebensstil hat.

Viel wurde von einer großen gemeinsamen Herausforderung durch das Coronavirus gesprochen: Es betrifft uns alle, macht auch vor den Eliten nicht halt und wird deshalb sogar schon als »demokratisches« und »gleichmacherisches« Virus bezeichnet. Das ist, gelinde gesagt, totaler Blödsinn.

Denn während die einen sich um das letzte Klopapier bei Aldi prügeln und die anderen in den sozialen Medien darüber Witze machen, fliehen die Superreichen mit Privatjets und Luxusjachten aus den von Corona betroffenen Ländern. Der prekäre Arbeiter kann sich derweil nirgendwo verstecken, auch nicht vor einer Beschäftigung, die seine Gesundheit gefährdet.

Dieser Tage wird viel über Risikogruppen gesprochen. Alte Menschen, Menschen mit Vorerkrankungen. Es sind aber nicht nur genetische Dispositionen, die dafür sorgen, dass jemand stärker durch das Virus gefährdet ist.

Wer kann es sich leisten, einfach Zuhause zu bleiben? Wer kann im Homeoffice arbeiten, wer nicht? Wer hat eine eigene Wohnung, wer teilt sie sich mit mehreren Menschen, die einer Lohnarbeit nachgehen müssen? Wer muss trotz Vorerkrankung weiter nach draußen, wer kann sich isolieren? Wessen Forderungen finden in der Öffentlichkeit Gehör, wessen nicht? Viele Künstler und Künstlerinnen, Autorinnen, Vortragende und Selbstständige machen in den Sozialen Netzwerken auf ihre prekäre Auftragslage durch das Coronavirus aufmerksam. Die Grünen forderten dann schnell einen Rettungsfonds für Kulturschaffende. Das ist auch wirklich wichtig. Aber warum nicht gleich ein bedingungsloses Grundeinkommen, welches auch dem Supermarktkassierer und der Migrantin ohne Arbeitserlaubnis zu Gute kommt?

Übrigens: Laut Zahlen des Robert-Koch-Instituts treten schon bei sozial benachteiligten Kindern bestimmte Vorerkrankungen öfter auf, so zum Beispiel die Zuckerkrankheit, Bronchitis sowie Fehler und Erkrankungen des Herzens. Alle drei Krankheiten begünstigen einen schweren Verlauf von COVID-19. Von wegen gleichmacherisches Virus.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.