Vorlesen am Telefon

Wie Italien mit dem Ausnahmezustand umgeht. Von Anna Maldini

  • Anna Maldini
  • Lesedauer: 4 Min.

Europa ist nun das Zentrum der globalen Corona-Pandemie - und innerhalb Europa liegt das Zentrum in Italien. Über 31 000 Infizierte zählt das Land zuletzt, die zahlen steigen einstweilen schnell. Am schlimmsten ist es im Norden. Zum Beispiel in Bergamo. Auf dem Zentralfriedhof fanden hier früher etwa sechs Beisetzungen pro Tag statt. Derzeit ist es eine jede halbe Stunde. Inzwischen müssen Särge mit Verstorbenen in Militärfahrzeugen zu anderen Friedhöfen gebracht werden.

Im nördlichen Italien haben die meisten Menschen direkt mit der Krankheit zu tun, und sei es auch nur, weil sie Kranken- oder Leichenwagen durch die Straßen fahren sehen. Durchhalteparolen gelten in erster Linie dem Krankenhauspersonal, das bis zum Umfallen arbeitet. Restaurants sind eigentlich geschlossenen, doch einige arbeiten unentgeltlich weiter und schicken Mahlzeiten in die Krankenhäuser. Auf den Pizzakartons sind Dankesworte hinterlassen. Auch Konditoreien und Eisdielen beteiligen sich an diesen solidarischen Aktionen, um dem Pflege- und Reinigungspersonal, den Ärztinnen und Ärzten oder den beanspruchten Belegschaften der Labore wenigstens einige süße Momente zu bescheren.

Anders ist die Lage dort, wo man vom Virus direkt nicht so viel mitbekommt. In Rom zum Beispiel besteht die Herausforderung zumindest bisher weniger in der Krankheit selbst als im verordneten Einfrieren des öffentlichen Lebens. Daher haben sich dort viele Initiativen gegründet, um die gefährliche Mischung von Langeweile und Angst zu bekämpfen, die bei der nun schon seit zehn Tagen anhaltenden Ausgangssperre unweigerlich aufkommt.

Die Initiativen füllen den ganzen Tag. Am Vormittag wird sich in erster Linie um die Kinder gekümmert, die langsam in eine Art Lagerkoller verfallen. Für die Größeren haben viele Schulen Digitalunterricht organisiert. Bei den jüngeren funktioniert das kaum. Viele Eltern sind auf sich allein gestellt, da die Großeltern als Kinderbetreuer ausfallen - sie sind Corona-Risikogruppe. Geholfen wird diesen Eltern von verschiedenen Organisationen und Vereinen, die Malbücher oder Bastelmaterial für die Kleinsten vorbeibringen. Besonders für die Schüler mit Lernschwächen bieten sich - immer auf ehrenamtlicher Basis - Lehrer oder Betreuer an, die täglich anrufen und mit den Eltern besprechen, was und wie sie mit ihren Kindern lernen können, damit sie den Anschluss nicht verlieren.

In einigen Wohnblocks haben die Erwachsenen Kochwettbewerbe veranstaltet: Man bereitet etwas zu, stellt dann seinen Nachbarn eine Portion vor die Tür - und die dürfen dann am nächsten Tag darüber abstimmen, wer am kreativsten war und das Zeug zum Sternekoch hat.

Zwei Mal am Tag - mittags um zwölf und abends um sechs - wird gemeinsam gesungen. Aus vielen Fenstern schallen dann bekannte Lieder, die fast alle kennen und mitsingen können. Nicht immer gelingt es allerdings, sich auf ein Stück zu einigen, dann geht es durcheinander. Ganz oben in der Hitparade stehen derzeit italienische Schlager, die Mut machen sollen, wie »Volare« und »Azzurro«, aber auch Lieder wie »We are the world«, mit denen man Grenzen übergreifende Solidarität ausdrücken will. Daneben gibt es freilich auch die »patriotische« Fraktion, die gerne die italienische Nationalhymne anstimmt. An diesen Aktionen beteiligen sich viele Prominente, die von ihren Balkonen aus mitsingen. Musikstars geben Konzerte auf ihren Terrassen, die sie aufzeichnen und dann ins Internet stellen. Eine schöne Idee hatte ein Tenor in Florenz: Bei Sonnenuntergang öffnete er sein Fenster und trug die berühmte Arie aus Puccinis Oper Turandot vor: »Nessun d‘orma« - auf deutsch: Niemand schlafe!

Musik erklingt also viel im öffentlichen Raum Italiens, und vor allem die Kinder tanzen dazu - da der Sportunterricht und das Spielen im Freien gestrichen sind, muss die überschüssige Kraft ja irgendwohin fließen. Ähnlich geht es den Erwachsenen. Für sie geben Trainer kostenlose Sportstunden im Internet und leiten ältere Menschen dazu an, wie man auch dann nicht »einrostet«, wenn man noch nicht einmal im Park spazieren gehen darf.

In einem Wohnkomplex in Rom hat die Bewohnerschaft dieses Problem auf besondere Weise gelöst: Man vereinbart Spaziergehzeiten im Innenhof: erst darf Signora Rossi vom dritten Stock, dann Signor Pizzi aus dem Erdgeschoss, und so weiter: Jeder hat den Hof dann eine halbe Stunde für sich allein, kann sich im Freien bewegen und sich dabei mit den Nachbarn unterhalten, die aus den Fenstern zusehen.

Und auch für ein Abendprogramm ist gesorgt. Die Filmtheater sind zwar längst geschlossen, doch ein Kino projiziert seine Filme auf eine Häuserwand: Bisher gab es »Moderne Zeiten« von Charlie Chaplin, »Pulp Fiction« von Quentin Tarantino und »Ginger und Fred« von Federico Fellini. Es ist also für jeden etwas dabei. Und wer dann immer noch nicht müde ist, kann sich bei einigen Buchhändlern melden, die per Telefon aus einem Roman vorlesen, den sie vorher zusammen ausgesucht haben. Und so geht ein weiterer Tag im Corona-Land Italien zu Ende.

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