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Leidensdruck und Windschatten per App
Wie Radprofis in einer virtuellen Welt trainieren
Radfahren im Freien ist in zahlreichen europäischen Ländern derzeit verboten. Die Profis sind daher zum Rollentraining verdammt. Es handelt sich für einige durchaus um eine Art Verdammung. »Das ist ja nicht wie im Kempinski Spa-Bereich. Es ist sehr monoton, weil man stur auf eine weiße Wand guckt«, berichtet Maximilian Schachmann dem »nd«. Der 26-jährige Berliner gewann Mitte März mit Paris-Nizza das bislang letzte ausgetragene Profirennen in diesem Jahr.
Es gibt allerdings Alternativen. Sogar die berühmten Kehren von Alpe d’Huez kann man hochfahren. Vom eigenen Wohnzimmer aus, oder auch in der Garage - je nachdem, wo man sein Rad an eine smarte Rolle angeschlossen und mit Zwift verbunden hat. In der virtuellen Welt Watopia bietet diese App beispielsweise die Alpe du Zwift an - eine exakte Nachbildung der ikonischen Radsportstrecke in Frankreich.
Jason Osborne ist sie hochgefahren - die echte Alpe im Herbst letzten Jahres. »Da bin ich unter die Top Zehn auf Strava gekommen«, erzählt der 26-Jährige stolz. Strava ist die Radsport-App für den Sport im Freien, bei der man seine Gipfelbestzeiten eintragen kann. Osborne, Olympiakader im Leichtgewichtsrudern mit einer großen Liebe zum Radsport, ist auch die Alpe du Zwift hochgefahren. Den virtuellen Wettkampf dort hat er sogar gewonnen. »Vom Leidensdruck her ist es auf jeden Fall gleich. Es ist sehr realitätsnah angelegt. Am Beginn der Steigung merkt man auch, wie der Widerstand der Pedale wächst«, erzählte der Mönchengladbacher dem »nd«. Per Bluetooth ist die smarte Rolle mit dem Laptop verbunden. Der Neigungswinkel der Steigung und damit der Widerstand, den es beim Bergauffahren zu überwinden gilt, werden dabei auf die Kurbel übertragen. Hinzu kommt die visuelle Ebene. Auf dem Monitor kann man in das virtuelle Alpe d’Huez eintauchen.
Auch Stadtkurse gibt es. Die Weltmeisterschafts-Strecke von Richmond etwa war eine der ersten auf Swift. Auch eine virtuelle Version des Olympiakurses von London ist befahrbar. »Man kann dort am Big Ben vorbeifahren, man sieht die Themse und auch Passanten. Der Vorteil zum echten Leben ist, dass man nicht dem Straßenverkehr ausweichen muss«, berichtete Osborne. Das einzige, was fehle, sei der Wind, der einem ins Gesicht bläst, sagt er. Den wichtigen Windschatten indes gibt es. Die App Zwift hat dafür die Algorithmen bereitgestellt. »Man sieht es auch daran, wenn die Parameter dann auf Strava hochgeladen werden. Der Sieger eines Events hat dann manchmal schon 0,5 Watt weniger als der Dritte oder Vierte. Das zeigt, dass sich Taktik und Windschattenfahren auszahlen können«.
Mittlerweile nutzen Zwift auch viele Profi-Radsportler. »Mehr als 200 Profis aus der WorldTour sind bei uns schon angemeldet, manche seit einigen Jahren. Auch prominente Triathleten sind bei uns dabei«, teilt Chris Snook, Sprecher von Zwift, »nd« mit. Rekordhalter mit 20 000 zurückgelegten Kilometern ist dabei der Olympiasieger und dreifache Ironman-Gewinner Jan Frodeno. Unter den Straßenradprofis ist laut Snook der Norweger Edvald Boasson Hagen mit fast 19 000 Kilometern der Dauerbrenner.
Seit mehr als drei Jahren nutzt auch der Rostocker André Greipel die App. »Ich habe Rolle fahren gehasst. Aber seit es Zwift gibt, schaffe ich es auch drei, vier Stunden auf der Rolle zu fahren«, sagt er dem »nd«. Der elfmalige Etappengewinner bei der Tour de France nutzt Zwift weniger für die Teilnahme an Wettkämpfen, sondern mehr zu Trainingszwecken. »Rennen fahre ich ungern, es ist ja schon sonst genug Quälen dabei. Ich muss mich nicht noch auf der Rolle mit jemandem messen. Es gibt aber viele schöne Trainingsprogramme. Man kann sie sich selbst erstellen, aber auch Zwift bietet Trainingspläne an, die man über mehrere Wochen befolgen kann.«
Interessant für Greipel und auch andere Profis ist, dass die Programme exakt auf die funktionelle Leistungsschwelle, also die zu erreichenden Wattwerte, einstellbar sind. »Man kann effektiv trainieren und es geht nichts vom Niveau verloren«, erzählt Greipel. Er war in dieser Saison wegen seiner Verletzung schon häufiger auf Zwift als andere Kollegen. Gegenwärtig haben viele Profis aufs virtuelle Training umgestellt. Und auch viele Amateurfahrer, die ebenfalls nicht mehr im Freien fahren dürfen, drehen nun per App ihre Runden. »Vor ein paar Tagen haben wir einen Rekord aufgestellt und hatten mehr als 24 000 Personen zur gleichen Zeit auf unserer Plattform«, so Snook.
Auch die traditionellen Radsportveranstalter werden mittlerweile virtuell aktiv. Giro-Ausrichter RCS ließ so am 21. März den ob der Coronakrise abgesagten Frühlingsklassiker Mailand-Sanremo dennoch starten. Gefahren wurden die letzten 57 Kilometer des Eintagesrennens. Unter den mehr als 4000 Teilnehmern befand sich auch der Gewinner des realen Rennens von 2018 - der Italiener Vincenzo Nibali.
In anderen Sportarten nimmt der eSport derzeit ebenfalls Fahrt auf. In der Formel 1 gibt es das bereits seit 2017. Seit der Absage der realen Rennen wird diese e-Serie nun auch von der Formel 1 selbst gestreamt. Der Bezahlsender Sky übertrug den Grand Prix in Bahrain. Zwei Formel 1-Piloten nahmen teil: Lando Norris und Nicholas Latifi. Auch der Deutsche Nico Hülkenberg fuhr mit. Auf dem Twitch-Kanal des englischen Fahrers Norris sollen sich 100 000 Zuschauer eingeschaltet haben. Formel 1 als eSport ist dabei mehr als nur Knöpfchendrücken. Ambitioniert kann man bereits an das Set-Up gehen, die Aerodynamik, Reifendruck und Anordnung der Räder bestimmen.
Jason Osborne wartet darauf, dass auch virtuell gerudert werden kann. Aber: Die finanziell starken Sportarten sind eben auch im eSport vorn.
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