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Schutzlos auf der Straße
Obdachlose sind in Zeiten der Corona-Pandemie besonders gefährdet
Norman Meseke sitzt auf dem Boden am S- und U-Bahnhof Schönhauser Allee. Über ihm rattern die Züge der Hochbahn entlang, vor ihm steht eine Büchse mit Kleingeld. Es ist später Nachmittag, die tiefstehende Sonne taucht den Prenzlauer Berg in ein warmes Licht. Dutzende Passant*innen hasten vorbei, doch niemand bleibt stehen, um dem Obdachlosen Geld zu geben. Wie erleben Menschen, die wie Meseke auf der Straße leben, die Coronakrise? Ändert sich für sie etwas? »Eigentlich nicht, nein«, sagt der 37-Jährige. »Wir müssen ja trotzdem auf der Straße schnorren oder zur Suppenküche.« Jedoch sei die Solidarität der Menschen in der gegenwärtigen Krise etwas größer als zuvor. »Einige geben mir jetzt doch mal 2 Euro statt 50 Cent.«
Noch etwas hat sich verändert: An vielen Orten Berlins gibt es mit Nahrungsmitteln und Kleidung behängte Gabenzäune für Obdachlose, etwa am Neuköllner Reuterplatz oder am Pankower Bahnhof - und auch an der Schönhauser Allee. Meseke berichtet, er hole sich jeden Morgen ein Tütchen mit Essen an einem der Zäune. »Das finde ich wirklich super, das hilft mir sehr«, erzählt er. »In den Beuteln ist dann zum Beispiel auch mal ein Knoppers oder so ein Kraftriegel drin. Stullen sind geschmiert, auch Obst ist drin. Also das ist eine ganze Menge, davon wird man auf jeden Fall satt«, freut er sich.
Liebe Leserinnen und Leser,
Menschen ohne festen Wohnsitz sind in der Coronakrise am wenigsten geschützt. Wir rufen Sie auf zu helfen. Bitte rufen Sie die Bahnhofsmission, den Obdachlosentreff oder die Notunterkunft in Ihrem Wohnort an; fragen Sie, was gebraucht wird. Spenden Sie diese Dinge oder hängen Sie Ihren Spendenbeutel an einen der Gabenzäune. Schauen Sie auch nach Spendenkonten von Obdachloseninitiativen, Kältehilfen und Betreuungseinrichtungen. Und schreiben Sie uns unter dem Stichwort »nd-Leser helfen«, wem Sie wie geholfen haben.
Wolfgang Hübner, nd-Chefredakteur
Seit Donnerstag verteilt auch die Berliner Stadtmission Lebensmittel an Obdachlose. »Derzeit packen wir Nothilfe-Päckchen für bedürftige Menschen«, so die Stadtmission. Darin enthalten sind beispielsweise ein Stück Obst, ein Riegel, ein Sandwich und eine Flasche Wasser. Die Tüten werden etwa bei der Bahnhofsmission am Zoo, am Ostbahnhof und in der Joachim-Friedrich-Straße verteilt.
Dass im Moment viele Menschen Obdachlosen helfen wollen, hat auch Ulrich Neugebauer festgestellt. Er leitet die Kältehilfe der Stadtmission und erklärt: »Die Bereitschaft von Ehrenamtlichen ist sehr hoch.« Zudem gebe es zurzeit viele Essensspenden, vor allem von Hotels. Am schlimmsten sei aktuell die Kälte: »Die Menschen, die nachts zu uns kommen, sind sehr durchgefroren«, berichtet er. Deswegen biete man auch noch zu später Stunde warmes Essen an.
Um sie vor dem Coronavirus zu schützen, will Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) 350 ganztägige Unterkunftsplätze für Obdachlose schaffen. Eine dafür ausgewählte Jugendherberge in der Kluckstraße in Tiergarten, in der 200 Menschen Platz haben, hat am Mittwochabend erstmals ihre Pforten geöffnet. 50 Menschen übernachteten dort. »Im nächsten Schritt wird die Unterkunft Storkower Straße für die Unterbringung von 150 Obdachlosen hergerichtet«, teilt Breitenbachs Sprecher Stefan Strauß auf nd-Anfrage mit. Ob das ausreicht für die vielen Leute, die auf der Straße leben? »Jeder Mensch, der einen Platz haben möchte, wird ihn bekommen. Wenn die Kapazität nicht ausreichen sollte, werden wir das Angebot erweitern«, verspricht Strauß.
Frieder Krauß von der Berliner Obdachlosenhilfe begrüßt die Maßnahmen des Senats, doch sie gehen ihm nicht weit genug. Er hatte beim »Housing Action Day« am vergangenen Samstag die Beschlagnahmung von Hotels gefordert, um Obdachlose dort vor dem Coronavirus zu schützen. »Man müsste jetzt unbürokratisch weitere Orte schaffen«, findet auch Neugebauer von der Kältehilfe. Schließlich gebe es in Berlin im Winter über 1200 Schlafplätze für Obdachlose. Die Stadtmission könnte Menschen über die kalte Jahreszeit hinaus aufnehmen - »die Möglichkeiten hätten wir«, so Neugebauer. Zudem werde der Kältebus in diesem Jahr länger unterwegs sein, und manche Notübernachtungsmöglichkeiten blieben auch über den April hinaus geöffnet. Auch prüft die Stadtmission gerade, wie man »derzeit leer stehenden Hotels und Gästehäuser sinnvoll nutzen« könnte, beispielsweise für obdachlose Menschen oder Opfer häuslicher Gewalt.
Auf der anderen Seite mussten viele Hilfseinrichtungen bereits schließen oder ihr Angebot reduzieren - wegen kranker Mitarbeiter*innen oder um Ehrenamtliche und Obdachlose zu schützen. So gebe es etwa in der Suppenküche in der Pankower Wollankstraße kein warmes Essen mehr, bedauert Norman Meseke, sondern lediglich geschmierte Brote.
Angst vor dem Virus habe er »nicht wirklich«. Richtig schützen kann Meseke sich allerdings ohnehin nicht: Außer einem Halstuch, das er vor Mund und Nase ziehen könnte, hat er lediglich ein Fläschchen Desinfektionsmittel. Das stammt aus einem der Gabenzaun-Beutel, erzählt der Obdachlose. »Damit mache ich mir die Hände zwei-, dreimal häufiger als sonst sauber.« Wo er hingehen soll, wenn er krank würde, weiß er nicht - schließlich sei er nicht krankenversichert, erklärt der gelernte Konstruktionsmechaniker.
Seit etwa zwei Jahren lebt Meseke auf der Straße. »Früher habe ich auch sehr viel getrunken, da habe ich dann das Geld statt für Miete für Alkohol und Drogen ausgegeben«, berichtet er. Neben seiner Wohnung hat er auch seinen Job verloren. Am meisten helfen würde ihm ein eigener, abschließbarer Raum - denn in den Sammelunterkünften werde oft geklaut; zudem gebe es dort viele Betrunkene, erzählt Meseke. Er selbst lasse inzwischen die Finger vom Alkohol. Für die Zeit nach der Coronakrise hat er sich vorgenommen, wieder arbeiten zu gehen: »Ich will versuchen, wieder auf die Beine zu kommen. Weil: Auf der Straße zu leben, ist wirklich nicht einfach - und macht auch keinen Spaß.«
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