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Auf gepackten Taschen
Die mexikanische Regierung ist beim Beschluss konkreter Corona-Maßnahmen zurückhaltend. Das provoziert die Eigeninitiative von Gemeinden und Reisenden.
Der Hügel am Ende der Bucht von Barra de Potosi, einem kleinen Fischerdorf im mexikanischen Bundesstaat Guerrero, ist kein prächtiges Naturmonument, auch nicht besonders hoch. Eine Gruppe Tourist*innen in abgeschnittenen Jeans und mit breitkrempigen Fischerhüten reißt sich die Beine zwischen knorrigen Dornenbüschen auf. Vom Strand aus kann man auf dem Gipfel einen Leuchtturm erahnen, von dem es heißt, er laufe mit Solar.
Corona hin oder her, nur im Hotel ausharren, das hilft schließlich auch keinem. Darauf können sich die letzten Reisenden von Barra einigen. Flankiert von drei weiteren Ausflügler*innen späht Julia Creighton durch den Palmenhain. Das Küstendörfchen ist an vollen Tagen so touristisch, dass Kund*innen sich Perlen ins Haar flechten lassen können, und zugleich so unberührt, dass keinerlei Wanderrouten ausgeschildert sind. Julia bereist Mexiko mit ihrem Mann Michael Frevola. Sie kommen aus Halifax, Kanada. »Wir sind die Gringopatrouille«, scherzt er, als die Wandersleute stramm auf den Berg zu halten. Mexikaner*innen bezeichnen mit Gringo*a weiße US-Amerikaner*innen und Europäer*innen. In den 1960ern beschrieb der Aktivist Jose Angel Gutierrez das Wort Gringo als Sammelbegriff für Personen und Institutionen mit bigottem und rassistischem Verhalten. Gringo*a ist zwar nicht zwingend abwertend zu verstehen, dennoch schwingen die anhaltenden Traumata aus Kolonialzeiten in der Bezeichnung mit.
Ein Gringo im abenteuerlichen Outfit, das ist zuletzt seltener geworden in Barra de Potosi. Es ist leer, seit die Auslandsdienste aufgrund der Corona-Pandemie zur Rückreise auffordern. Nur vereinzelt tauchen noch limettengrüne Schwimmkappen in den Wellen auf. Die Wenigen, die übriggeblieben sind, versammeln sich bei Laura Kelly. Trotz Corona ist es ihr wichtig, dass ihre Pension ein offenes Haus bleibt. Die US-Amerikanerin ist umringt von Notizbüchern und einem kratzwütigen Kater. Das Bett ist ihre Schaltzentrale, zuerst kam der Knöchelbruch, dann die Isolation als Angehörige einer Risikogruppe. »Wir legen einen Garten an, falls das Essen knapp wird. Verrückte Zeiten.« Sie schüttelt den Kopf und greift nach den Desinfektionstüchern. Ein Schild auf der Kommode weist Laura als Immigrantin des Jahres für die Gründung einer Kinderbibliothek aus. Einige Reisende unterstützen sie beim Bauen und übernachten dafür kostenfrei.
Die Vereinbarung kommt Alex gelegen. Er belässt es generell beim Vornamen und steckt sich eine Mentholzigarette an. »Die Ukraine hat über Nacht die Grenzen geschlossen, auch für Staatsbürger«, erklärt er. Die lange Zeit in Barra verliert an Freiwilligkeit. Alex startet einen mexikanischen Liebesklassiker. »Was soll’s mit der Ukraine«, ruft er und »alle Lieder sind Liebeslieder«. »Stimmt, Liebe oder Narcos!«, lacht Isis Hernández Pérez und nimmt den Mundschutz ab. Das Haar liegt glatt nach hinten, keine Wimper zuckt, als ihr brüllender vierjähriger Sohn Santi das Windspiel malträtiert. Isis hält die Pension in Schuss. Da sie viel mit Laura abzusprechen hat, ist sie der einzige Mensch in Barra, der einen Mundschutz trägt. Angst vor dem, was kommt, hat sie nicht. Die Mutter von drei Söhnen vertraut auf die solidarischen Strukturen im Dorf. »Wenn das Geld mal knapp wird, lassen die Läden dich anschreiben.« Im Zweifel hat die Dorfgemeinschaft Zugang zu Fisch und Kokosnüssen.
In einem Mietverhältnis steht hier keiner. In den Städten ist es härter, meint sie, »da, wo die Leute sich nicht kennen und Bedürftige übersehen werden«. Tatsächlich ist ein ruhiges Dorfleben im Bundesstaat Guerrero auch ohne Corona nicht selbstverständlich. Kartellaktivitäten prägen das Bergland um die Ressortstädte. Die Kämpfe um die Opiumfelder haben Guerrero wirtschaftlich und emotional zerpflügt, ganze Landstriche sind durch die Flucht vor organisiertem Verbrechen verwaist. Das Chaos und die Isolation aus dem Hinterland bleiben wie die Wolken an den Bergspitzen hängen.
Es ist Halbzeit auf der Wanderroute. Manche suchen mit hochroten Köpfen unter den struppigen Büschen nach etwas Schatten. Auch Alex ist dabei, kommandiert die Truppe weiter bis zu den drei mächtigen Mangobäumen kurz vor dem Gipfel. Julia trägt einen der breitkrempigen Hüte, die Sonne scheint ihr nichts auszumachen. Sie sinkt auf den Stein und meint, es wäre klare Sache, dass sie und Michael früher abreisen, schon allein um das lokale Gesundheitssystem zu entlasten. Stummes Nicken in der Gruppe.
In der Pension kommen Gestrandete zusammen, um sich über die Reisesituation auszutauschen. Da geht es nicht nur um verschobene Flüge. Corona lässt die Urlauber*innen die Konsequenzen ihrer Mobilität reflektieren: Warum sollten sie mit ihrer Fortbewegung andere potenziell gefährden? Auf eine Anfrage an touristische Betriebe in der Umgebung antwortet Ariel Seeley mit einer Aufforderung zu mehr Verantwortungsbewusstsein: »Wer das Privileg hat zu reisen, hat das Privileg zurückzukehren.« Die Krankenschwester führt eine Surfschule und versorgt gerade Covid-19-Patient*innen in den USA.
Bei Pensionsbesitzerin Laura hagelt es Stornierungen. Nun kann sie nicht allen den vollen Preis zurückerstatten. Unethisch nennen das manche, erzählt sie. Es sei doch globaler Konsens, dass Menschen zu Hause bleiben sollen. Laura hat sich allerdings nicht nur wegen eigener Existenzsorgen ein volles Haus zur Semana Santa, der Osterwoche, erhofft. Ihre Angestellten sind auf Lohn angewiesen. Mexiko hat keine Sicherheitsnetze, die die Ausfälle abfedern. Dem trotzend stimmen just in dem Moment die Nachbar*innen gegenüber mit Coronavirus-Gesängen in die Klagen ihrer Hähne ein. Sie schmunzeln über Pamphlete, die auf Hygiene und Abstand hinweisen.
Die Regeln wirken sonderbar deplatziert in einem Küstendorf mit 400 Einwohner*innen, dort, wo es vor natürlichem Social Distancing im Sinne von Platz nur so strotzt. Isis ertappt sich dabei, die Sache nicht ganz so ernst zu nehmen. Man hört die Leute munkeln, Corona sei eine Lüge, nicht mehr als eine Grippe. »Das ändert sich erst, wenn jemand im Dorf stirbt.« Ein älteres Paar aus Philadelphia schiebt sich an ihr vorbei. Corona beunruhigt die beiden null, obwohl Risikogruppe. »See you later.« Die mexikanische Bevölkerung fordert von der Regierung seit Wochen eine stimmige Corona-Strategie. Die Reaktion darauf kommt – landesweit werden alle Strände geschlossen. Sabine Schledd ist alarmiert. Sie schwimmt seit zwei Monaten jeden Morgen aufs Meer hinaus, bis sie die Mangobäume auf dem Hügel sehen kann. Wo sie gerade mit der Gringopatrouille haltgemacht hat.
Als Ehrenamtliche hat sie in der benachbarten Bibliothek die Kids auf Trab gehalten, und als die nicht mehr kommen durften, Bete hochgezogen. Die pensionierte Lehrerin tanzt in Bielefeld Tango, man merkt ihr an, dass sie sich zu organisieren weiß. Sie grübelt mit den anderen in der Pension über das Gerücht der bevorstehenden Flughafenschließung. In der Unvorhersehbarkeit von Corona hat immer jemand einen Sohn mit einem Freund, der bei Gemeinde oder Bundeswehr arbeitet. Leute mit vermeintlich wasserdichten Prognosen über den Reiseverkehr. Am Abend springen alle noch mal ins Meer, bevor die Strände endgültig dichtmachen. Corona ist für Reisende in Barra nur real, solange das WLAN läuft oder Infos vom Rückholprogramm durchsickern und deutlich machen, dass man auf sich allein gestellt ist. Am Strand spielt eine traditionell-mexikanische Blaskapelle, die Mariachi, für einen letzten Tisch. Die Trommel schlägt einem Herren beinahe die Cola vom Tisch.
Und dann geht alles ganz schnell. Am nächsten Morgen ist das Plastikmobiliar hochgestellt. Krisensitzung. An der Kreuzung vorm Kindergarten bellt ein Wortführer Ansagen in die Menschenansammlung. Auch Isis steht dabei, ihr Bruder kommt angeradelt, man erkennt Gastwirte wieder. Sich widersprechende Informationen werden hin- und hergeschrien. In den Nachbarorten wurden alle Läden geschlossen und das Militär jagt die Leute vom Strand. Langsam löst sich die Gruppe wieder auf. Die Menschen von Barra de Potosi sind es gewohnt, im Unkontrollierbaren zu navigieren. Dann beschließt der Rat, das Dorf dichtzumachen, um den Virus draußen zu halten. Menschen, die nicht in Barra wohnen oder arbeiten, müssen am Ortsschild kehrtmachen. Es ist keine Regierungsentscheidung. Wie in vielen Teilen Mexikos reagieren die Gemeinden auf Corona in Eigenregie. Die lange zögerliche Haltung des mexikanischen Präsidenten hat die Ortschaften eigene Maßnahmen anordnen lassen.
Auf dem Hügel entpuppt sich der Leuchtturm als klappriges Metallkonstrukt. Alex sucht möglichst komplizierte Wege der Besteigung. »Ab, hoch da, Mickey.« Julia zückt das Smartphone. Von hier kann man Barras Straßen erahnen, die Kähne auf See, auch manche Karren am Wegesrand, denen man den Ruhestand wünscht. Die alten VW-Cabrios mit abgeflexten Dächern sind dafür gemacht, jede Starkbierfahrt und jede Pandemie zu überdauern. Die Gringopatrouille macht sich für den Abstieg bereit. Es ist Zeit, den Weg zurück anzutreten.
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