Wie schnell wirken die Maßnahmen gegen Covid19?

Die Neufallzahlentwicklung zeigt zuerst, ob und wie stark Beschränkungen Wirkung entfalten

  • Moritz Wichmann
  • Lesedauer: 7 Min.

Wirken die Maßnahmen gegen das Coronavirus? Das ist die Frage, die gerade ziemlich viele Menschen stellen. Wie lange müssen wir noch auf der Couch bleiben? Wann können die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus schrittweise gelockert oder gar aufgehoben werden? Eine Antwort darauf können und wollen deutsche Politiker und Politikerinnen, die »faktenbasiert« Politik machen – also Daten zur Ausbreitung von Covid19 ihr Handeln bestimmen lassen - derzeit nicht geben. Doch Hinweise gibt es.

Vielfach in der Öffentlichkeit und auch von führenden Politikern propagiert wurde in den letzten Tagen und Wochen das Motto und der Hashtag #FlattenTheCurve. Das vielfach verbreitete Diagramm dazu zeigt das schnelle Überschreiten der Krankenhauskapazitäten bei ungebremster exponentieller Ausbreitung in einer steilen Kurve. Gleichzeitig wird in einer weiteren Kurve eine deutlich verlangsamte Verbreitung durch die Vorgabe von Regeln zur sozialen Distanzierung und deren kontinuierliche Anwendung dargestellt. Würde die Verbreitung des Virus über einen längeren Zeitraum gestreckt, würden wir vielleicht nicht die Kapazitätsgrenzen unseres Gesundheitssystems überschreiten – und die dramatischen Folgen vermeiden, die derzeit in Spanien und Italien sichtbar sind.

Der »Hammer« wirkt zeitverzögert

Doch Flatten The Curve als Motto ist leicht missverständlich beziehungsweise nur der Anfang von dem, was gerade passiert. Denn die Strategie der Bundesregierung folgt lose dem, was Länder wie China und Südkorea – wenn auch mit zum Teil anderen Mitteln und zu einem anderen Zeitpunkt der Ausbreitung – begonnen haben. Sie scheint in etwa dem zu entsprechen, was ein millionenfach gelesener »Medium«-Artikel »Hammer-und-Tanz-Strategie« nennt.

Grob zusammengefasst: Da anders als sonst in Deutschland (und vielen anderen Ländern) ein schnelles Ersticken der Virusausbreitung versäumt wurde und sich die dadurch ausgelöste Lungenkrankheit Covid19 bereits stark verbreitet hat, muss das Virus nun mit drastischen Maßnahmen – dem Hammer – nicht nur in seiner Ausbreitung verlangsamt, sondern eingedämmt werden. »Medium«-Autor Tomas Pueyo veranschlagt dafür länderübergreifend grob drei bis sieben Wochen.

Doch das Abflachen der zuerst exponentiellen Ausbreitungskurve ist nur der erste Schritt dazu. Ob das gelingt, lässt sich zuerst an der Fallzahl der täglich neu bestätigten Covid19-Fälle ablesen. Ob die getroffenen Maßnahmen in Deutschland wirken – zuerst die Schließung von Restaurants, Bars, Schulen und Universitäten am 16. März und dann die Verkündung von Kontaktverboten am 23. März –, zeigt sich erst zeitverzögert. Doch wie sehr, ist noch unklar.

Bei einer Covid-19 Ansteckung treten erst nach drei bis 14 Tagen Symptome auf. Menschen gehen unterschiedlich schnell zum Arzt und lassen sich auf die Krankheit Testen, beziehungsweise müssen teilweise tagelang darauf warten. Auch die Auswertung der Tests und die Übermittlung der Daten dauert zum Teil mehrere Tage, mindestens jedoch einen Tag.

Die bisher vorliegenden Daten aus anderen Ländern – wie unvollständig auch immer sie sein mögen (siehe Anmerkungen am Artikelende) –, zeigen einen relativ ähnlichen Verlauf der Epidemie in vielen Ländern. Und eine ähnliche Reaktion auf Gegenmaßnahmen, auch wenn diese unterschiedlich sind. Südkorea etwa erreichte ohne Ausgangssperre hauptsächlich durch Massentests und Nachverfolgung nach drei Wochen einen Rückgang der Neufälle auf unter 100.

In China wurde offenbar eine Reduktion der Neufälle auf weniger als 100 pro Tag nach 43 Tagen erreicht. Das gelang mit einer strikten Abriegelung der Region Hubei und der Stadt Wuhan sowie einer scharfen Ausgangssperre, die es alle drei Tage nur einem Familienmitglied erlaubte, die Wohnung zu verlassen. Die höchste Zahl der täglich neu bestätigten Fälle (siehe Anmerkungen) wurde zwölf Tage nach dem Lockdown erreicht.

Die Zahlen der neuen Fälle zeigen zuerst die Wirksamkeit der Maßnahmen

Der erste Teil der näherungsweise Antwort auf die Frage, wann die Maßnahmen gegen Covid19 in Deutschland wirken, wäre also: Soziale Distanzierung und Kontaktverbote wirken frühestens nach einigen Tagen. Der zweite Teil: In deutlich mehr Fällen wirken sie vermutlich nach etwa 14 Tagen. Und in weiteren Fällen kann es deutlich länger dauern. In der folgenden Grafik sind deswegen näherungsweise – in Anlehnung an eine Halbierung eines Monats – jeweils einmal 15 Tage als Orientierungshilfe und einmal ein 30-Tageszeitraum nach Inkrafttreten der beiden Maßnahmenpakete durch die Länder und die Bundesregierung dargestellt. Sie zeigt bereits jetzt: Die höchste Zahl an Neufällen hat Deutschland zwölf Tage nach Beginn des ersten bundesweit verkündeten Maßnahmepakets über Veranstaltungs-, Schul- und Ladenschließungen erreicht. In den letzten Märztagen ist die Kurve der neuen Fälle zunächst abgeflacht und hat dann ein Plateau erreicht. Seit dem 2. April sinken diese Neufallzahlen.

Wer mit dem Cursor über die Grafik fährt, sieht, dass die Neuzahlen immer am Wochenende sinken und immer zum Ende der Woche wieder ansteigen. Hintergrund ist laut Robert-Koch-Institut, dass ein Teil der Gesundheitsämter am Wochenende keine neuen Testdaten übermittelt. Doch dieses Wochenend-Muster scheint sich gerade zu ändern. Ob und wie stark das in den nächsten Tagen tatsächlich geschieht, wird ebenfalls zeigen, wie stark und schnell die Eindämmungsmaßnahmen wirken.

Wer gegenüber diesen »einfachen« Zahlen kritisch ist, kann auch auf den Anstieg der Fallzahlen in Prozent schauen. Wer die Anstiegsrate von fünf Tagen mittelt und dann jeweils aus diesen Mittelwerten einen Drei-Tagesdurchschnitt bildet, wie das der Ex-New-York-Times-Datenjournalist und Datawrapper-Mitarbeiter Gregor Aisch tat, »glättet« die Kurve des Anstiegs und macht sie so leichter lesbar. So lassen sich Trends einfacher erkennen. Wirtschaftsanalysten etwa rechnen ständig mit solch »rollenden« Durchschnittswerten. Und auch die Kurve der Anstiegsrate zeigt deutlich nach unten. Mitte März lag sie noch bei zwanzig bis dreißig Prozent, seitdem ist sie klar auf deutlich unter zehn Prozent gesunken.

Weil anders, weniger oder mehr nach verschiedenen Kriterien getestet wird, sind Ländervergleiche problematisch und dürfen nur als grober Vergleich dienen: In den USA verlangsamt sich die Ausbreitung von Covid19. Südkorea hat die Kurve schon Anfang April »unter Kontrolle gebracht«. Und auch Italien – das Land hatte seinen zehnten Todesfall 18 Tage vor Deutschland – hat die Anstiegsrate auf nur wenige Prozentpunkte reduziert. Bei der Interpretation der rollenden Mittelwerte muss aber beachtet werden, dass dieser Wert quasi zeitverzögert den Anstieg oder Rückgang der Fallzahlen zeigt.

Sollte nach mehreren Wochen Beschränkungen die Ausbreitung unter Kontrolle gebracht werden - in dem die täglichen Neufälle unter die der an diesem Tag Genesenen fällt, oder wenn die Zahl der Neufälle etwa auf unter 100 pro Tag fällt, eine Debatte über sinnvolle Zielwerte dazu sollte jetzt starten -, können die Maßnahmen gelockert werden. Nach erfolgreicher Eindämmung könnte mit Maßnahmenlockerung die Tanz-Phase beginnen. Denn wir leben mit dem auf wenige Fälle eingedämmten Virus und verschärfen Maßnahmen nur, wenn es nötig ist. Etwa lokal bei begrenzten Neuausbrüchen oder einer erneuten Ansteckungswelle.

Anmerkungen zu den Daten:
Die Fallzahlen zum Coronavirus sind mit Unsicherheiten behaftet. Wir wissen nicht, ob und wie stark die Fallzahlen in China entweder manipuliert sind oder schlicht nur einen Teil der Betroffenen einschlossen - etwa weil womöglich tausende zu Hause starben. Das Gleiche gilt auch für andere Länder wie beispielsweise Deutschland. Covid19-Tests werden unterschiedlich viel und verschieden schnell und nicht immer nach den gleichen Kriterien durchgeführt – in Deutschland etwa wurden in den letzten Wochen deutlich mehr Coronavirus-Tests pro Woche durchgeführt als noch Anfang März.

Die Dunkelziffer der tatsächlichen Coronavirusfälle ist unbekannt. Eine bessere Datenqualität wäre natürlich wünschenswert. Ein Vergleich von Fallzahlen zumindest in Deutschland selbst und zwischen verschiedenen Tagen, an denen vermutlich ähnlich ungenau gemessen wurde, zeigt aber trotzdem Trends – und gibt wichtige Hinweise, ob die Eindämmung wirkt.

In diesem Artikel werden die Daten der Johns Hopkins-Universität aus New York benutzt. Die Forscher der für ihre medizinische Forschung bekannten Universität aus Baltimore suchen aktiv nach Fällen und nutzen auch von deutschen Tageszeitungen wie der »Berliner Morgenpost«, der Funke-Mediengruppe und des »Berliner Tagesspiegel« recherchierte Fallzahlen. Die Johns Hopkins-Zahlen unterscheiden sich leicht von den offiziellen Zahlen des bundeseigenen Robert-Koch-Instuts. Doch auch dort zeigen sich sehr ähnliche Trends, zum Teil werden mehrere Tage hintereinander wegen Nachmeldungen Zahlen nach oben »nachkorrigiert«.

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