Deutschland sucht den Super-Virologen

Wissenschaftlich und ethisch hoch komplexe Fragen taugen nicht für einfache Ja/Nein-Antworten

  • Robert D. Meyer
  • Lesedauer: 3 Min.

Das Hamburger Fachblatt für Teilzeithumanisten ist bekannt dafür, auch vor den kompliziertesten gesellschaftlichen Fragen nicht zurückzuschrecken. Und weil bekanntlich schon Immanuel Kant und Albert Schweitzer ethische Positionen auf einer Länge von maximal 280 Zeichen verhandelten, stellte die »Zeit«-Redaktion am Donnerstag auf Twitter ihre Leser vor folgende Debatte: »Diese Woche fragt ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo: Fänden Sie es richtig, alte und vorerkrankte Menschen noch deutlich länger zu isolieren, wenn dafür die Einschränkungen für alle anderen gelockert werden können?«

Bis Donnerstagmittag hatten sich bereits fast 1800 Twitternutzer an der Umfrage beteiligt. Dreiviertel der Teilnehmer antworteten mit Nein, gleich im ersten Kommentar unter der Umfrage wies ein Leser darauf hin, wie »dümmlich und populistisch« es sei, eine komplizierte Frage auf ein Ja/Nein-Schema zu verkürzen.

Es wäre spannend zu erfahren, wie die Abstimmung in der »Zeit«-Redaktion ausgegangen wäre. Risikogruppen? Das sind nicht »nur« 20 Millionen Rentner, sondern auch Raucher, Übergewichtige, Krebspatienten sowie Menschen mit den unterschiedlichsten anderen Vorerkrankungen, von Diabetes bis hin zu schweren Vorbelastungen der Lunge oder des Herzens.

Das ist natürlich alles viel zu kompliziert, um es in einer Twitter-Umfrage darzustellen, zumal Experten wie der Virologe Christian Drosten erklären, dass sich Risikogruppen nicht einfach isolieren lassen. In seinem NDR-Podcast »Coronavirus-Update« hat sich der Forscher wiederholt ausführlich dazu geäußert. Die »Zeit« hält es dennoch für angebracht, ein Land mit inzwischen annähernd 82 Millionen Hobbyvirologen abstimmen zu lassen, so als ließe sich eine Pandemie durch das richtige Umfrageergebnis wirksam bekämpfen.

Weil es in der Coronakrise nicht schon genug wirklich wichtige Zahlen im Blick zu behalten gilt, produzierte Bild.de noch ein paar völlig unwichtige Daten und blies diese in ihrer angeblichen Relevanz auf. Kürzlich fragte das Onlineboulevardblatt seine Leserschaft: »Welchem Virologen vertrauen Sie am meisten?« Beim TV-Sender RTL hätten die Programmmacher das entsprechende Äquivalent vermutlich »Deutschland sucht den Super-Virologen« genannt. 60 000 Votes später ließ sich am Ergebnis die ganze Unsinnigkeit solcher Beliebtheitswettbewerbe ablesen: Mit sechs Prozent weit hinten landete Lothar Wieler, Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI). »Bild« vermutet, das schlechte Abschneiden des RKI-Präsidenten habe damit zu tun, dass Wieler »für unpopuläre Maßnahmen verantwortlich gemacht wird«.

Kontaktverbote retten die Wirtschaft!
Warum die Gegenüberstellung von staatlichen Maßnahmen und wirtschaftlichem Wachstum nicht aufgeht

Maßnahmen, die gerade viele Menschenleben retten. Ein Fakt, der sich nicht über Popularitätswerte messen lässt, sondern nach nüchterner Wissenschaftlichkeit verlangt. Im Halbsatz erwähnt »Bild« dann auch, dass die Abstimmung nichts über die Glaubwürdigkeit und Kompetenz aussagt. Gefragt hat »Bild« ihre Leser dennoch, völlig absurderweise.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Mehr aus: Aus dem Netz gefischt