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Deutschland sucht den Super-Virologen
Wissenschaftlich und ethisch hoch komplexe Fragen taugen nicht für einfache Ja/Nein-Antworten
Das Hamburger Fachblatt für Teilzeithumanisten ist bekannt dafür, auch vor den kompliziertesten gesellschaftlichen Fragen nicht zurückzuschrecken. Und weil bekanntlich schon Immanuel Kant und Albert Schweitzer ethische Positionen auf einer Länge von maximal 280 Zeichen verhandelten, stellte die »Zeit«-Redaktion am Donnerstag auf Twitter ihre Leser vor folgende Debatte: »Diese Woche fragt ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo: Fänden Sie es richtig, alte und vorerkrankte Menschen noch deutlich länger zu isolieren, wenn dafür die Einschränkungen für alle anderen gelockert werden können?«
Bis Donnerstagmittag hatten sich bereits fast 1800 Twitternutzer an der Umfrage beteiligt. Dreiviertel der Teilnehmer antworteten mit Nein, gleich im ersten Kommentar unter der Umfrage wies ein Leser darauf hin, wie »dümmlich und populistisch« es sei, eine komplizierte Frage auf ein Ja/Nein-Schema zu verkürzen.
Es wäre spannend zu erfahren, wie die Abstimmung in der »Zeit«-Redaktion ausgegangen wäre. Risikogruppen? Das sind nicht »nur« 20 Millionen Rentner, sondern auch Raucher, Übergewichtige, Krebspatienten sowie Menschen mit den unterschiedlichsten anderen Vorerkrankungen, von Diabetes bis hin zu schweren Vorbelastungen der Lunge oder des Herzens.
Das ist natürlich alles viel zu kompliziert, um es in einer Twitter-Umfrage darzustellen, zumal Experten wie der Virologe Christian Drosten erklären, dass sich Risikogruppen nicht einfach isolieren lassen. In seinem NDR-Podcast »Coronavirus-Update« hat sich der Forscher wiederholt ausführlich dazu geäußert. Die »Zeit« hält es dennoch für angebracht, ein Land mit inzwischen annähernd 82 Millionen Hobbyvirologen abstimmen zu lassen, so als ließe sich eine Pandemie durch das richtige Umfrageergebnis wirksam bekämpfen.
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Kontaktverbote retten die Wirtschaft!
Warum die Gegenüberstellung von staatlichen Maßnahmen und wirtschaftlichem Wachstum nicht aufgeht
Maßnahmen, die gerade viele Menschenleben retten. Ein Fakt, der sich nicht über Popularitätswerte messen lässt, sondern nach nüchterner Wissenschaftlichkeit verlangt. Im Halbsatz erwähnt »Bild« dann auch, dass die Abstimmung nichts über die Glaubwürdigkeit und Kompetenz aussagt. Gefragt hat »Bild« ihre Leser dennoch, völlig absurderweise.
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