Covid-19 - Indikator eines Systemversagens

Nicht das Coronavirus ist das Problem, sondern der Kapitalismus, der dessen zerstörerische Wirkung potenziert

  • Peter Richter
  • Lesedauer: 7 Min.

Seuchen gibt es seit Menschengedenken, und lange waren die Betroffenen ihnen schutzlos ausgeliefert. Im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung starben im Römischen Reich fünf Millionen Menschen vermutlich an den Pocken. Die schwarze Pest raffte im 14. Jahrhundert 25 Millionen Menschen, ein Drittel der damaligen Bevölkerung Europas, hinweg. Damals war die Isolierung der Infizierten das einzige Mittel zur Eindämmung der Epidemie; oft verbannte man sie vor die Tore der Stadt und überließ sie dort ihrem Schicksal. Auch in den späteren fest verriegelten Seuchenstationen war das nicht anders. Und selbst heute ist der Ausschluss der Erkrankten aus der Gesellschaft noch immer das erste Mittel der Wahl - trotz immenser Fortschritte der Wissenschaft, trotz weit entwickelter Gesundheitssysteme, trotz milliardenschwerer Investitionen der Pharmaindustrie.

Da ist man über das Mittelalter offensichtlich nicht sehr weit hinausgekommen, auch wenn die Todeszahlen heute sehr viel geringer sind. Dafür sind aber in den umfassend vernetzten und dem Profitsystem unterworfenen Gesellschaften der Gegenwart die Folgen der Isolation gravierender - und oft in anderer Hinsicht tödlich. Es zeigt sich, dass nicht das Coronavirus an sich das Problem ist, sondern der entfesselte Kapitalismus, der darauf keine Antwort hat, sondern im Gegenteil weit über das medizinische Desaster hinaus wie ein Brandbeschleuniger wirkt.

Natürlich gibt es heute Studien zur Entwicklung und Bekämpfung von Pandemien und entsprechende Notfallpläne, doch spielt dabei die langfristige Vorsorge zur Beherrschung epidemischer Abläufe offensichtlich eine untergeordnete Rolle. Wohl auch deshalb sorgte die Erinnerung an die »Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012«, in der vor mehr als sieben Jahren geradezu akribisch prognostiziert worden ist, was wir in diesen Tagen erleben, für einiges Aufsehen. Die Analyse beschreibt eine solche Pandemie als »ein natürliches Ereignis, das immer wieder vorkommen wird«, schätzt es nichtsdestotrotz aber nur als »bedingt wahrscheinlich« ein, was so interpretiert wird, dass es statistisch »in der Regel einmal in einem Zeitraum von 100 bis 1000 Jahren eintritt«.

Eine fatale Fehleinschätzung, die durch die Studie selbst eigentlich nicht gestützt wird. Denn dort heißt es: »Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Erreger mit neuartigen Eigenschaften, die ein schwerwiegendes Seuchenereignis auslösen, plötzlich auftreten können.« Ausdrücklich genannt werden dafür das SARS-Coronavirus (CoV), das H5N1-Influenzavirus, das Chikungunya-Virus und HIV - alles Pandemien der letzten 40 Jahre.

Mit dem weltweiten Auftreten eines neuen Erregers musste also relativ zeitnah gerechnet werden, vor allem auch wegen der sich rasend schnell entwickelnden Vernetzung über alle Kontinente hinweg - einschließlich des globalen Verkehrs. Das erforderte langfristige Vorsorgemaßnehmen, die natürlich ihren Preis haben, aber keinen Profit bringen, solange die Pandemie nicht ausbricht. Liegt hierin vielleicht der Grund für die bewusste Verharmlosung der Gefahr?

Nach Auskunft des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe sollte die Analyse »als Informations- und Entscheidungsgrundlage dienen und somit eine risiko- und bedarfsorientierte Vorsorge- und Abwehrplanung im Zivil- und Katastrophenschutz ermöglichen«. Mit der Überarbeitung des Nationalen Pandemieplans wurde das Robert-Koch-Institut beauftragt. Das Resultat ist ziemlich ernüchternd, denn jetzt, als sich das Virus ausbreitete, fehlen überall Kapazitäten zu seiner Bekämpfung - von Beatmungsgeräten über qualifiziertes und motiviertes Personal bis hin zu Schutzbekleidung und Atemmasken. Weil die Regierung deshalb zu Recht fürchtete, dass das so unzulänglich vorbereitete Gesundheitssystem überfordert wird, musste sie der Bevölkerung scharfe Beschränkungen auferlegen.

Angesichts dessen mutet es zumindest seltsam an, dass einige der Verantwortlichen für diese Entwicklung sich nun als kompetente Retter gerieren. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder fuhr sogar zum Flughafen, um eine Sendung chinesischer Atemschutzmasken in Empfang zu nehmen - als seien sie ein teurer Staatsgast. Dabei hatten es die Behörden seines Bundeslandes ebenso wie die Bundesregierung zuvor versäumt, für eine ausreichende Produktion solcher Masken zu sorgen - und das, obwohl die genannte Risikoanalyse auf absehbare Engpässe ausdrücklich hingewiesen hatte. Jetzt aber sind jene, die bei der Vorsorge versagten - Bayern liegt bei Infizierten wie Todesfällen an der Spitze der Bundesländer -, oft besonders forsch mit ihren Forderungen an die Bevölkerung und veranlassen die Polizei zu mitunter überzogenem Durchgreifen bei Verstößen.

Durch die drastischen Ausgangsbeschränkungen und Kontaktsperren wurde die Pandemie über die medizinische Problematik hinaus schnell zu einer ökonomischen Krise, deren Auswirkungen noch nicht abzusehen sind. Denn die kapitalistische Wirtschaft ist in ihrer heutigen Verfassung nicht auf unvorhergesehene Entwicklungen vorbereitet, weil sie Kosten zunehmend nach voluntaristischen Maßstäben kalkuliert. Controller bestimmen in den Unternehmen, was zu geschehen hat, die Wirklichkeit wird ausgeblendet, wenn der Mehrwert winkt. Daraus haben sich in den letzten Jahren Geschäftsmodelle entwickelt, die außerordentlich fragil sind und jetzt ganze Bevölkerungsgruppen vor existenzielle Probleme stellen.

Massenhaft wurden vor allem Beschäftigte im Dienstleistungssektor in Kurzarbeit geschickt. Der Bezug von Kurzarbeitergeld ist zwar erleichtert worden, aber gerade in diesem Bereich werden oft nur Mindestlöhne oder wenig mehr gezahlt; da kommt man mit der Absenkung des Gehalts auf 60 Prozent kaum über die Runden. Andere wie Mini-Jobber oder Solo-Selbstständige, ganz zu schweigen von Schwarzarbeitern, erhalten keinerlei Unterstützung. Saisonkräfte in der Landwirtschaft gelangen nur aufgrund von Sonderregelungen auf die Felder; die Bauern haben sich seit Langem auf billige Erntehelfer aus Südosteuropa eingerichtet. Existenzielle Schwierigkeiten drohen auch kleinen Mittelständlern in Handel, Gastronomie oder Kultureinrichtungen, die kaum Rücklagen haben, um Durststrecken durchzustehen.

Sie alle haben sich - eher ungewollt als gewollt - einem System unterworfen, das im Interesse des Profits ständig auf Senkung der Arbeitskosten hinarbeitete und damit all diese prekären Existenzen erst hervorbrachte. Hinzu kam - vor allem durch die Politik der Schwarzen Null - ein ständiger Abbau sozialer Sicherungen. Damit aber wurde die gesamte Wirtschaft in hohem Maße störanfällig, ist sie nicht gewappnet für schlechtere Zeiten, die - wie wir jetzt sehen - urplötzlich eintreten können. Es ist ein Systemversagen, das darin zum Ausdruck kommt, weil die Kosten, die man sparen wollte, nun potenziert anfallen.

Und dieses Systemversagen zeigt sich auch in der Unfähigkeit des Kapitalismus, aus Krisen zu lernen. Erst zwölf Jahre ist es her, dass es zur Finanzkrise kam, die das gesamte Bankensystem in Frage stellte. Doch statt daraus Konsequenzen zu ziehen und Fehlentwicklungen für die Zukunft zu erschweren, wurde alles getan, um den Status quo ante nur schnell wiederherzustellen. Dies geschah vor allem durch finanzielle Eingriffe in die öffentliche Daseinsvorsorge und den Abbau des Sozialstaats vor allem in Ländern, die darauf in besonderem Maße angewiesen sind und deshalb jetzt auch am meisten unter der Corona-Pandemie leiden. Sie machten die Bevölkerung in hohem Maße schutzlos und sind die wesentliche Ursache für die Tiefe der gegenwärtigen Krise.

Und es gibt Anzeichen, dass nach diesem Muster auch nach Bewältigung der Coronakrise verfahren werden soll. Die regierungsnahe Leopoldina-Akademie hat in ihrer jüngsten Stellungnahme ausdrücklich die Rückkehr zur »freiheitlichen Marktordnung« und den »Abbau der Staatsverschuldung« im Sinne der Schuldenbremse angemahnt. Vorschläge für eine bessere Ausstattung des Gesundheitswesens machte sie nicht; 2016 hatte sie noch in Thesen »Zum Verhältnis von Medizin und Ökonomie im deutschen Gesundheitswesen« die rigorose Schließung vermeintlich überflüssiger Krankenhäuser gefordert.

Auch Politiker vor allem von FDP und AfD verlangen die schnelle »Rückkehr zu gewohnten Zuständen«, führende Wirtschaftsvertreter ohnehin. Ihnen fallen bei der Beantwortung der Frage, wer für diese verfehlte Politik nun aufkommen müsse, zuerst die Rentner ein; das Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft forderte, die diesjährige Rentenerhöhung zu halbieren, und aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wurde für den Verzicht auf die Grundrente plädiert. Unfähig, Lehren aus dem eigenen Versagen zu ziehen, beharren sie blindgläubig auf dem Weiter-so.

Gleichzeitig sind Bestrebungen nicht zu übersehen, dieses »Vorwärts in die Vergangenheit« gegen erwartbare Kritik abzusichern. Zwar ist die Bundesrepublik weit entfernt von autoritär-diktatorischen Entwicklungen wie in Ungarn oder Israel, wo bereits Soldaten in Kampfanzügen auf den Straßen patrouillieren. Aber wer hätte vor Kurzem damit gerechnet, dass bei uns Bundesländer ihre Grenzen sichern, Demonstrationen trotz Einhaltung der Distanzregeln rigoros unterbunden werden und Drohnen Menschenansammlungen überwachen? Man hat den Eindruck, als würde getestet, was wie funktioniert, was hingenommen wird und was (noch) nicht. Man war zwar auf die Pandemie schlecht vorbereitet; das soll sich aber nicht wiederholen, wenn es um die Erhaltung des Systems geht.

Peter Richter ist Journalist und arbeitete lange als politischer Redakteur bei Tageszeitungen, darunter »neues deutschland«. Seit mehr als zehn Jahren betreibt er den Internetblog »Blogsgesang«, der sich laut Selbstbeschreibung »Politik, Zeitgeschichte, Kultur und Welt-Anschauung« widmet.

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