Asymmetrische Krise

Die Coronavirus-Pandemie und der Lockdown treffen die Länder der Europäischen Union auf sehr unterschiedliche Weise

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 3 Min.

Corona macht Europa ungleicher, denn die Viruskrise wirkt asymmetrisch. Beispiel Tourismus: In Griechenland steht das besonders befallene Reisegewerbe für 30 Prozent der Wirtschaftsleistung. Die wichtigste Branche leidet darunter, dass die Urlaubsaktivitäten nahezu auf null heruntergefahren wurden. Die meisten Betriebe fürchten, Bankrott zu gehen, so lautet das Ergebnis einer Umfrage des griechischen Hotelverbandes.

Auch einige große EU-Länder wie Spanien und Italien hängen mit rund 15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) am Tropf des Tourismus. Gänzlich anders ist die Wirtschaftsstruktur in den exportstarken Niederlanden. Der Tourismus spielt bei unseren Nachbarn mit gerade mal fünf Prozent eine kleine Nebenrolle. In den beiden stärksten EU-Volkswirtschaften, Deutschland und Frankreich, liegen die Tourismusaktivitäten nach Angaben des Informationsdienstes Knoema unter zehn Prozent. Und hiervon geht, anders als etwa in Griechenland, ein erheblicher Teil auf inländische Geschäftsreisen zurück.

Erhebliche Unterschiede gibt es auch bei der Wirtschaftskraft, wie die offiziellen Arbeitslosenzahlen veranschaulichen. Nach einem Jahrzehnt Hochkonjunktur meldete Exportvizeweltmeister Deutschland Ende 2019 eine Arbeitslosenquote von rund drei Prozent - Italien dagegen von zehn Prozent. Und in Spanien und Griechenland sind noch mehr Menschen ohne regulären Job.

Corona trifft nicht allein auf unterschiedlich strukturierte und unterschiedlich erfolgreiche Volkswirtschaften, sondern schlägt bekanntlich auch unterschiedlich hart bei den Erkrankungen zu. Außerdem zeigten die Gesundheitssysteme eine unterschiedliche Belastbarkeit. Die spanische Außenministerin Arancha Gonzáles Laya wies anlässlich des EU-Gipfels am Donnerstag darauf hin, Kürzungen nach der Finanzkrise hätten in Italien, Frankreich und Großbritannien das Gesundheitswesen geschwächt. Auch Spanien hatte »früher eine solide Gesundheitsversorgung, aber sie ist heute weniger belastbar, als sie sein könnte«.

Die Zeche zahlen Corona-Erkrankte. Forderte in Deutschland die Pandemie auf eine Million Einwohner 31 Tote, waren es nach Zahlen der Weltgesundheitsorganisation Mitte April in Italien 302 und in Spanien 339. Die dramatisch unterschiedliche Betroffenheit führte zu unterschiedlichen Reaktionen der Politik. So stehen die 47 Millionen Bürger Spaniens seit dem 15. März unter Hausarrest und dürfen nur in wenigen Ausnahmefällen nach draußen. Selbst Spaziergänge im Freien sind, anders als in vielen Ländern, strikt untersagt. Der Lockdown zeigt daher in Spanien drastischere Wirkungen in der Wirtschaft.

Auch in Mittel- und Osteuropa könnte die Krise besonders tief ausfallen. Zwar wuchs die Wirtschaft in den meisten Staaten in den vergangenen Jahren überdurchschnittlich, aber besondere strukturelle Defizite blieben. So verlor Rumänien nach einer Studie des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche mehr Ärzte durch Abwanderung an reiche Staaten als jedes andere EU-Land. Die Rückkehr vieler Pflegekräfte, Bauarbeiter und Erntehelfer in ihre Heimat in der Coronakrise belastet die ohnehin schwachen Gesundheitssysteme auch in Bulgarien oder Polen zusätzlich. Die Wiener Forscher rechnen daher in Mittel- und Osteuropa mit dem schlimmsten wirtschaftlichen Einbruch seit der globalen Finanzkrise.

Indes reagierte Bukarest auf die heraufziehende tiefe Rezession ähnlich wie Berlin: mit Kurzarbeitergeld, billigen Krediten und Steuerstundungen für Firmen. Doch während Bundeskanzlerin Angela Merkel 1,5 Billionen Euro mobilisiert, kann Rumäniens Präsident Klaus Iohannis, der den Notstand ausgerufen hat, nur mit einem kleinen Milliardenbetrag auf die Coronafolgen »feuern«. Analysten erwarten ein Schrumpfen der Wirtschaft um bis zu 6,6 Prozent.

Auch die großen EU-Länder dürften im ersten Halbjahr in eine tiefe Rezession fallen. Für Deutschland wird ein Minus von um die 3,5 Prozent erwartet. Da sich die Wirtschaft des wichtigsten Handelspartners China aber wieder belebt, hofft man in Berlin, mit einem blauen Auge davonzukommen. In den meisten EU-Ländern dürfte der Einbruch nach den vorliegenden Prognosen deutlich schlimmer ausfallen.

Eine tiefe Rezession prognostiziert inzwischen auch der Internationale Währungsfonds. Für 2021 erwartet der IWF in der Eurozone allerdings schon wieder eine Erholung und ein Wirtschaftswachstum von 4,7 Prozent - vorausgesetzt, die Auswirkungen der Corona-Pandemie werden im zweiten Quartal 2020 unter Kontrolle gebracht. Doch wie der Abschwung wird auch der Aufschwung asymmetrisch verlaufen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -