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»Die Bosse nutzen die Corona-Krise fantasievoll aus«
Lucie Fennel von der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft FAU über Selbstorganisation und kreative Strategien gegen Kündigungen und Co.
Mit welchen Problemen kommen Lohnabhängige gerade zur FAU?
Neu sind die zahlreichen Fragen zu Kurzarbeit, zur Sicherheit am Arbeitsplatz, zu staatlichen Hilfen und zu vereinfachten Anträgen auf Hartz IV. Die Bosse sind beim Ausnutzen der Corona-Krise teilweise sehr fantasievoll. Vieles, was uns untergekommen ist, befindet sich juristisch in einem Graubereich.
Lucie Fennel ist Servicekraft und Sekretärin für die Geschäftskommission der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU). Die anarchosyndikalistische Gewerkschaftsföderation setzt sich aus lokalen Einzel- und Branchengewerkschaften zusammen. Fennel ist außerdem als Organizerin im prekären Sektor tätig. Mit der Gewerkschaftsaktivistin sprach Sebastian Bähr. Foto: privat
Was zum Beispiel?
Das sind an erster Stelle Änderungskündigungen, Kündigungen und das Nichtverlängern befristeter Verträge. Gegen letzteres ist juristisch nur extrem schwer vorzugehen, weil derzeit die Arbeitsgerichte geschlossen sind. Viele verlieren gerade reihenweise ihre Jobs durch Nichtverlängerung und finden jetzt auch kaum neue Jobs. Da müssen wir natürlich kreativ werden, aber das genau das ist ja gerade unsere Stärke.
Wie kann man unter den aktuellen Bedingungen kreativ sein?
Das kommt auf den Betrieb und die Branche an. Manche Arbeitgeber können sich öffentlichen Druck nicht leisten, vor allem solche, die ein hohes Prestige haben und viel Geld in ihren guten Ruf investieren. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel stehen wir momentan mit mehreren städtischen Kultureinrichtungen im Konflikt, da kann so was große Wirkung zeigen.
In Staaten wie Italien kommt es derzeit zu größeren Streiks und Protesten. Wie bewerten Sie die aktuellen Auseinandersetzungen in Deutschland?
Die großen Gewerkschaften in Deutschland sind traditionell träge und verspielen einiges an Chancen. Ihr Apparat ist ja auch gar nicht auf Selbstverteidigung der Arbeiter*innen ausgelegt. Es gibt derzeit zwar auch hier Auseinandersetzungen, aber die laufen wegen mangelnder Unterstützung durch die Gewerkschaften unter dem öffentlichen Radar.
An wen denken Sie da?
Es gibt eindeutige Verlierer*innen der Krise, besonders in den Bereichen Pflege, Einzelhandel, Reinigung, Landwirtschaft und Logistik. Es leiden die »Systemrelevanten«, also die, die gerade unsere Gesellschaft am Laufen halten. Sie kämpfen mit extremer Überlastung und teilweise lebensgefährlichen Umständen. Es werden Schichtzeiten verlängert, Ruhezeiten gekürzt und mangelnde Schutzmaßnahmen in Kauf genommen. Mit purer Dreistigkeit.
Was wäre stattdessen notwendig?
Beispielsweise mehr Personal für die systemrelevanten Berufe. Und Fördergelder und staatliche Hilfen müssen vor allem Arbeitnehmer*innen und Selbstständigen zugute kommen. Klatschen reicht für uns nicht. Vor allem im prekären Sektor hätten wir die Dankbarkeit gerne in Form von Geld.
Würden Protestaktionen und Streiks etwa in der Pflege oder im Einzelhandel derzeit auf öffentliche Zustimmung stoßen?
Ich denke, da gibt es jetzt schon einen starken Rückhalt. Der Pflegenotstand ist ja nichts Neues, und der Beruf genießt große Anerkennung in vielen Teilen der Gesellschaft. Hätte ich jetzt die Mittel von ver.di zur Hand, wäre ich auf dem Weg ins Klinikum Holweide in Köln. Das soll nämlich wegen fehlender Mittel geschlossen werden, gegen den Willen der Bürger und der Belegschaft.
Auch das Thema Mieten erhält derzeit neue Dringlichkeit. In einigen Städten werden nun Mietergewerkschaften gegründet. Wie stehen Sie zu solchen Projekten?
Mietergewerkschaften sind bitter nötig. Gerade in Zeiten, wo viele nicht arbeiten können, aber trotzdem weiter Miete zahlen müssen. Das Konzept ist ja kein neues. In vielen Teilen Europas und der Welt haben sich Mietergewerkschaften wie ACORN bewährt. Die sind deutlich handlungsfähiger und schlagkräftiger als zum Beispiel der Mieterverein, der ja hauptsächlich eine Rechtsschutzversicherung ist. Gewerkschaften wie ACORN bringen Nachbarschaften zusammen, fördern Solidarität und machen Mut, aktiv zu werden. Mietergewerkschaften arbeiten ja auch oft mit ähnlichen Methoden wie traditionelle Gewerkschaften: Mietstreiks, Demonstrationen, Kampagnen und Mitgliederbestimmung.
Auf ihrer Webseite hat die FAU erklärt, dass sie im Anschluss an die Pandemie eine Wirtschaftskrise erwartet. Was droht aus Ihrer Sicht?
Rezessionen sind in unserem System unvermeidbar, die kommen immer wieder. Aufgrund der aktuellen Entwicklungen droht nun aber Ähnliches wie 2008: massive Jobverluste, Sparprogramme und Betriebsschließungen. Unternehmen reduzieren Kosten, das Bruttoinlandsprodukt sinkt, die Arbeitslosigkeit steigt. Der einzige Weg, sich dagegen zu wehren, sind organisierte Nachbarschaften und Belegschaften, die sich gegenseitig unter die Arme greifen. Von Staat und Wirtschaft ist da erfahrungsgemäß keine Unterstützung zu erwarten. Beim Arbeitskampf geht es vor allem um Macht, und die gilt es jetzt aufzubauen. Alle sollten sich die Frage stellen, wie sie reagieren können, wenn nach der Corona-Krise der Angriff der besitzenden Klasse beginnt.
Nach der Krise von 2008 gab es etwa in Griechenland Versuche der Selbstorganisierung von Nachbarschaften und Betrieben, auf europäischer Ebene scheiterte die gesellschaftliche Linke trotzdem. Was sind aus Ihrer Sicht die Lehren aus der damaligen Krise?
Die Selbstorganisierung damals war aus der Not geboren. Der Staat konnte den Menschen nicht helfen, die Arbeitslosigkeit stieg und unter den Sparmaßnahmen der EU litten hauptsächlich Lohnabhängige. Da liegt es natürlich nahe, sich selbst zu helfen. Sich zusammenzuschließen sollte aber zu einer Strategie werden.
Ich würde auch nicht sagen, dass die gesellschaftliche Linke gescheitert ist. Ich glaube, einige Ansätze und Strategien sind gescheitert, vor allem die Idee von sogenannten Bewegungsparteien. Ich möchte das nicht verteufeln, aber Selbstorganisation bringt sofort Ergebnisse, sie macht das Leben der Menschen an Ort und Stelle besser und baut Macht und politisches Bewusstsein auf, von dem Parteien nur träumen können.
Welche besondere Rolle können Basisgewerkschaften wie die FAU nun spielen?
Wir können genau das, was dem Deutschen Gewerkschaftsbund oft nicht gelingt: Schnell und flexibel reagieren und neue Methoden ausprobieren. Anstatt uns auf die Sozialpartnerschaft und das Wohlwollen von Arbeitgeberverbänden zu verlassen, hauen wir auf den Tisch und setzen unsere Forderungen durch.
In Köln zum Beispiel haben wir obdachlosen Frauen mit einer Kombination aus Verhandlungen mit dem städtischen Wohnungsamt und Hausbesetzungen Wohnraum verschafft. Ähnlich flexibel sind wir beim Arbeitskampf unterwegs. In einem Gastronomiebetrieb haben wir einen Arbeitskampf durch einen einwöchigen Streik und eine turbulente Betriebsbesetzung gewonnen. Aber wir üben uns auch in Verhandlungstaktik und Tarifrecht – was eben hilft.
Wie arbeitet die FAU derzeit?
Fast alle lokalen Organisationen der FAU haben ihre Aktivitäten auf telefonische Beratung oder Email und Treffen per Videochat umgestellt. Einige Syndikate stellten Gruppen zur gegenseitigen Hilfe auf und unterstützen Leute in ihrer Nachbarschaft. Viele unserer Beratenden und Organizer*innen haben sich darüber hinaus in die neue Rechtslage eingearbeitet. Das ist zwar alles sehr neu für uns, funktioniertaber bisher gut.
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