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Ausgegrenzte Hochrisikogruppe
Corona gefährdet Menschen ohne Zugang zur Gesundheitsversorgung besonders.
Viele Menschen, die sich zurzeit an uns wenden, sind sehr verunsichert«, sagt Hanna Schuh vom Medibüro Berlin. Es ist Mittwoch, die Hauptstadt steht unter dem Eindruck der fünfwöchigen winterschlafähnlichen Pause im Zuge der Verordnungen zur Eindämmung des Coronavirus.
Die 33-jährige Psychologin Schuh und ihr ehrenamtliches Netzwerk mit insgesamt etwa 30 Aktiven setzen sich nicht erst jetzt für das Recht auf Gesundheitsversorgung für Migrant*innen ein - selbstorganisiert, unabhängig und spendenfinanziert. Vor allem geht es den gesundheitspolitisch Engagierten um diejenigen, für die das Recht auf Gesundheitsversorgung nur deshalb nicht gelten soll, weil sie zum Beispiel nicht über vollständige Ausweisdokumente verfügen.
»Diese Gruppe ist immer, aber natürlich auch jetzt in der Pandemie, von der regulären Versorgung abgeschnitten«, schildert Schuh den sich angesichts der Coronakrise zuspitzenden Missstand. Kein Wort sei bisher darüber verloren worden, wie ein Testverfahren und - im Falle einer Positivtestung - eine Therapie für Illegalisierte vor sich gehen kann. »Es geht um Menschen, die befürchten müssen, dass ihre persönlichen Daten von den Gesundheitsämtern an die Ausländerbehörde weitergegeben werden.« Diese leite dann möglicherweise ein Abschiebeverfahren ein, wenn sie feststellt, dass die Person über keinen gültigen Aufenthaltsstatus verfüge, so Schuh, die seit 2011 bei Medibüro aktiv ist.
Schätzungen zufolge leben in der Bundesrepublik 200 000 bis 600 000 Menschen ohne Papiere - allein in Berlin sind es vermutlich um die 50 000. Dutzende von Medinetzen und Medibüros gibt es in Deutschland, viele davon im Westen des Landes. Der Berliner Verein kooperiert stadtweit mit 120 Ärzt*innen, Hebammen und Therapeut*innen, die es als ihre Pflicht ansehen, auch Menschen ohne Krankenversicherung zu versorgen. Über Beratungsgespräche, die zweimal wöchentlich im Büro des Vereins im Kreuzberger Zentrum Mehringhof angeboten werden, vermitteln die gesundheitspolitisch Aktiven seit 1996 Menschen an Praxen weiter, die sich bereit erklärt haben, Behandlungen anonym und kostenlos durchzuführen. Etwa 800 solcher Vermittlungen gibt es im Jahr. »Unser begrenztes Angebot deckt ganz bestimmt nicht den Bedarf«, ist sich Schuh sicher.
Der Verein versucht außerdem, über Spenden auch Kosten für Medikamente, orthopädische Hilfsmittel, Brillen, labortechnische Untersuchungen oder bildgebende Verfahren zu finanzieren. Momentan falle diese Unterstützung nicht sehr hoch aus, erklärt die Aktivistin gegenüber »nd«. Aber auch ein gut gefülltes Spendenkonto könne rasch leer sein, wenn mehrere hohe Rechnungen auf einmal beglichen werden müssen. Eine Krankenhausrechnung betrage schnell mal mehrere Tausend Euro, eine Computertomografie koste mehrere Hundert Euro, ebenso viel kann teilweise bei Medikamenten zusammenkommen, vor allem bei chronischen Krankheiten. Behandlungen über 500 Euro könne man derzeit nicht zusagen, so Schuh, man führe aber Wartelisten. Dies zeige im Übrigen besonders deutlich, wie unzuverlässig solche spendenbasierten, ehrenamtlichen Unterstützungsangebote sind - eine Zwischenlösung, die bereits 25 Jahre andauert.
Seit März verschärft sich die Situation auch deshalb, weil viele Beratungs- und Vermittlungsangebote angesichts der Eindämmungsverordnungen nicht mehr aufrechterhalten werden können. Ansteckungsrisiko und fehlende Schutzausrüstung sind hier ebenso ein Problem wie in allen anderen unterversorgten Bereichen.
Gleichzeitig hat Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) vor einigen Tagen mitgeteilt, dass ab sofort auch Menschen ohne Krankenversicherung ärztliche Behandlungen in der Metropole erhalten sollen - ein Schritt, den Medibüro bereits seit 2008 fordert. Trotzdem ist Schuh erleichtert: »Berlin geht mit der Kooperation zwischen Kassenärztlicher Vereinigung und Clearingstelle, die Menschen ohne Krankenversicherung ermöglicht, jede allgemeinmedizinische Praxis aufzusuchen, einen Schritt in die richtige Richtung«, sagt Schuh.
Aber damit löst sich das Problem für Hunderttausende von Betroffenen keineswegs in Luft auf. Zum einen sind solche Entwicklungen nach wie vor nur vereinzelt und lokal zu beobachten - neben Berlin unter anderem auch in Hannover oder Göttingen und auf Landesebene im rot-rot-grün regierten Thüringen. Zum anderen laufen die Vorhaben in der Regel als Modellprojekte, denen die langfristige Absicherung fehlt - ändert sich die politische Stimmungslage, werden die schwer erkämpften Errungenschaften wieder abgeschafft.
35 Medibüros und Medinetze forderten Mitte April auch vor diesem Hintergrund von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) eine schnelle, bundesweite und nachhaltige Lösung, um Hunderttausende von Illegalisierung betroffene Menschen besser zu schützen - auch vor dem Coronavirus. Weil die meisten, die auf anonyme Diagnostik und Behandlung angewiesen sind, fürchten, dass ihre Daten an die Ausländerbehörden übermittelt (§ 87 Aufenthaltsgesetz) und sie abgeschoben werden, müsse die Übermittlungspflicht endlich vollständig abgeschafft werden. Und weil andere vor hohen Behandlungskosten zurückschrecken und somit Arztbesuche, Untersuchungen oder Tests vermeiden, müsse die sofortige, ausnahmslose und dauerhafte Eingliederung von allen Menschen in das reguläre, gesetzliche Krankenversicherungssystem unabhängig vom Aufenthaltsstatus erfolgen. »Auch zu verlässlichen Informationen in ihrer Sprache über das Coronavirus und die Lungenkrankheit Covid-19 haben viele Menschen keinen Zugang«, heißt es in der Erklärung. Trotz lokaler, bundesweiter und internationaler Vorstöße, Empfehlungen und breiter medialer Berichterstattung seien in Deutschland bis heute weder Kostenübernahme noch Zuständigkeit und Verfahrensweise für unversicherte Menschen verbindlich geregelt. »Das ist grob fahrlässig«, so das Fazit der Unterzeichnenden.
»Wenn man immer wieder Modellprojekte anfährt, ist es außerdem deutlich kostenintensiver, als endlich eine bundesweite einheitliche Lösung festzulegen«, verweist Hanna Schuh auf den ökonomischen Aspekt bisheriger Verfahren. Menschenrechtlich sei es sowieso nicht zu verantworten.
Wie akut das Thema ist, zeigt auch ein offener Brief, den 27 Bundestagsabgeordnete der Linksfraktion am Mittwoch an Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Innenminister Horst Seehofer (CSU) gerichtet haben. In dem von Lorenz Gösta Beutin und Michel Brandt initiierten Papier fordern sie unter anderem ebenfalls die Abschaffung der Übermittlungspflicht. »In Folge des Shutdowns sind Zehntausende, die ihren Lebensunterhalt in Gastronomie, Hotelgewerbe, auf Baustellen, in Privathaushalten verdienen, aus der informellen Schattenwirtschaft ohne Absicherung nach Hause geschickt worden und verfügen seitdem vielfach über kein Einkommen«, schreiben die Autor*innen in der Erklärung. Wegen der erhöhten Polizeipräsenz auf den Straßen trauten sich Menschen ohne Papiere zudem kaum noch aus der Wohnung, was ihre gesellschaftliche Marginalisierung weiter verstärke. Man wisse mangels statistischer Erfassung nicht, »wie viel Leid und Not bei diesen Menschen in unserem Land durch die derzeitige Situation entsteht«. Ahnen können das nur Aktivist*innen wie Hanna Schuh.
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