- Politik
- 1. Mai
Wenn Solidarität Abstand heißt
Am 1. Mai wird es in diesem Jahr allenfalls kleinere Aktionen auf Straßen und Plätzen geben
Obgleich es in diesen Wochen so viele Anlässe wie nie für Kämpfe der Beschäftigten gibt - ihren traditionellen Kampftag muss die Gewerkschaftsbewegung ausfallen lassen. Zum ersten Mal seit seiner Gründung 1949 sagte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) seine Demonstrationen und Kundgebungen am 1. Mai ab: »Solidarität heißt in diesem Jahr: Abstand halten«, so der DGB-Chef Reiner Hoffmann. Ganz streichen will man den Feiertag aber auch nicht aus dem Gewerkschaftskalender. Statt auf der Straße sollen sich Beschäftigte im Internet für eine Online-Demo versammeln und auf diesem Wege das diesjährige Motto »Solidarisch ist man nicht alleine!« demonstrieren. Was sonst auf der Bühne stattfindet - Reden, Gesprächsrunden, Auftritte von Künstlern -, soll nun in einer Livesendung verfolgt werden können, der direkte Austausch über soziale Netzwerke möglich sein. Wenn schon das Zusammenstehen der Beschäftigten, in diesem Jahr nicht wirklich stattfinden darf - wenigstens dieselbe Sendung können sie einschalten.
Auch ohne Großveranstaltungen - mit ihren Forderungen zur Bewältigung der Corona-Pandemie sind Gewerkschaften derzeit nicht zu überhören. In den Betrieben versuchen sie, Gesundheitsschutz und Arbeitsrecht auch unter Notstandsbedingungen durchzusetzen, sie fordern die Aufwertung all jener Berufsgruppen, die die Gesellschaft vor dem Virus schützen, die Versorgung gewährleisten und die öffentliche Sicherheit aufrechterhalten und sie kämpfen gegenüber Unternehmensführungen und Politik dafür, die Krisenfolgen für die Beschäftigten finanziell abzufedern.
Einige Gewerkschaftsaktivisten und linke Organisationen halten kleinere Aktionen trotzdem für möglich. Unter dem Motto »Heraus zum 1. Mai« haben sie in mehr als 30 Städten Kundgebungen, Fahrraddemos, Umzüge oder Autokorsos an den traditionellen Orten und Demonstrationsrouten des 1. Mai angemeldet, wo sie »unter Beachtung des Infektionsschutzes« gegen die Einschränkungen von Grundrechten und das Abwälzen der Krisenkosten auf Beschäftigte und Hilfebedürftige demonstrieren wollen - mit Mundschutz, Schildern, Transparenten und dem nötigen Abstand untereinander. Auch die Linkspartei ruft zu ähnlichen Aktionen auf.
Die Initiatoren kommen insbesondere aus dem Gesundheitsbereich in Nordrhein-Westfalen, wo sie in den vergangenen Monaten an Kliniken für mehr Personal gekämpft haben, gegen Mängel also, die in der Coronakrise auch den letzten klar geworden sein dürften. Nun sollen Krankenhausbeschäftigte sogar bis zu zwölf Stunden pro Tag arbeiten müssen. Für systemrelevante Berufe wurde das Arbeitszeitgesetz gerade außer Kraft gesetzt - für den gelernten Krankenpfleger Tobias Michel ein Hauptgrund, warum er am 1. Mai raus auf die Straße will. Dieser Tag sei auch immer ein Kampftag für kürzere Arbeitszeiten gewesen, sagt der ehemalige Betriebsrat und Verdi-Aktivist aus Oberhausen. Die Verordnung von Arbeits- und Gesundheitsministerium, ohne Debatte, am Parlament vorbei, empört ihn besonders. Nicht zuletzt will er die Straßen nicht den Nazis überlassen. »Seit Jahren versuchen sie, den 1. Mai zu missbrauchen.«
Einen zentralen Aufruf gibt es nicht. Die Initiativen sollen vor Ort entscheiden, was ihnen am wichtigsten ist. Manche werden wohl die Situation von Flüchtlingen in den Mittelpunkt stellen, andere die Belastung von Frauen, die besonders stark in den systemrelevanten Berufen vertreten sind, so Michel. Im Laufe der Woche sollen die lokalen Aufrufe auf der Website der Plattform veröffentlicht werden, der Zeitpunkt ist abhängig von den Behörden, die derzeit noch die Anträge für Ausnahmegenehmigungen vom allgemeinen Versammlungsverbot prüfen. Solange deren Entscheidung nicht vorliegt, fürchten die Gewerkschafter Ärger, wenn sie für ihre Aktionen mobilisieren.
Bislang gehen die Bundesländer höchst unterschiedlich mit Demonstrationen um. Während in Düsseldorf eine Kundgebung mit 50 Teilnehmenden unkompliziert genehmigt wurde, gibt es anderswo massive Einschränkungen. »Unter der Überschrift des Infektionsschutzes werden gerade Auflagen verhängt, die Versammlungen unnötig einschränken«, kritisiert Tobias Michel. So würden Teilnehmerzahlen auf 20 begrenzt, sollen Zugänge zum Kundgebungsort kanalisiert, für alle Ordner FFP3-Masken ausgegeben, Rettungswagen bestellt und Teilnehmerlisten für das Ordnungsamt angefertigt werden. »Wenn zugleich Gottesdienste wie in Kevelar für bis zu 150 Besucher in einer Basilika mit deutlich weniger Einschränkungen stattfinden dürfen, dann werden hier Grundrechte mit zweierlei Maß gemessen.« Nur einen Punkt sehen die Behörden lockerer als früher: Vermummung ist erlaubt.
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