Schön wär‘s gewesen

75 Jahre nach Ende der NS-Zeit glaubt ein Drittel der Deutschen, ihre Vorfahren hätten Widerstand gegen die Nazis geleistet.

  • Mascha Malburg
  • Lesedauer: 3 Min.

75 Jahre nach Kriegsende hat die »ZEIT« eine Umfrage zur deutschen Erinnerungskultur veröffentlicht. Die Zahlen bestärken, was ähnliche Studien in den letzten Jahren immer wieder feststellten: Nur ein verschwindend geringer Teil der Deutschen glaubt, dass ihre Vorfahren aktive Täter im Nationalsozialismus waren. Ein knappes Drittel hingegen ist überzeugt, dass Oma und Opa sich tapfer für die Opfer eingesetzt hätten. So gaben im repräsentativen »Erinnerungsmonitor« letztes Jahr rund 29 Prozent der Befragten an, ihre Vorfahren hätten während des Nationalsozialismus potentiellen Opfern geholfen. Zehn Prozent glauben sogar, ihre Familien hätten Verfolgte bei sich aufgenommen und versteckt. Wenn man das ganz grob hochrechnet, hätten die Deutschen etwa acht Millionen Menschen vor der Naziverfolgung geschützt, nur ein paar Millionen hätten Hitler gedient. Schön wär‘s gewesen.

Wie kann es sein, dass im gelobten Land der Erinnerungskultur eine Mehrheit der Bürger die familiäre Vergangenheit verdrängt? Sicher, es gibt diejenigen, die einfach lügen: Bei einer anonymen Umfrage muss man ja nicht erzählen, dass man letztes Jahr beim Ausmisten Opas verstaubte Uniform im Schrank gefunden hat. Es gibt auch diejenigen, die es einfach nicht wissen: Die Vorfahren sind früh gestorben, beim Familientreffen hat niemand nachgehakt. Aber viele sind das nicht. Nur zehn Prozent der Deutschen sagten 2019, sie wüssten nicht, ob ihre Vorfahren Täter waren, drei Viertel der Befragten hingegen sprechen mit ihrer Familie über die Nazi-Vergangenheit. Nur wird da anscheinend eine Menge Unsinn geredet.

In der Psychologie gibt es ein Phänomen: Der Patient glaubt fest daran, sich an eine Sache zu erinnern, die gar nicht so passiert ist. Besonders Kindern kann man frei erfundene Erlebnisse einreden, bis sie sie sogar nachfühlen können. Andere Menschen schreiben das Gedächtnistagebuch unbewusst um, damit sie das Vergangene aushalten können. Das alles konnte in den letzten Jahrzehnten in deutschen Familien passieren, obwohl sie öffentlich ständig daran erinnert wurden, was wirklich geschehen ist.

Das Problem der deutschen kollektiven Erinnerung ist, dass man die private, familiäre Schuld wunderbar in ihr auflösen kann. Während den Opfern mit dem Erzählen von Einzelschicksalen ein Gesicht gegeben wird, bleiben die Täter eine diffuse Masse, gesichtslos. Klar, da war Hitler und die paar schwarz-weißen Fratzen auf der Anklagebank in Nürnberg – aber doch nicht Opa, der immer so lieb gelächelt hat.

Dazu passt, dass 51 Prozent der Befragten in der neuen »ZEIT«-Umfrage meinen, man müsse einen Schlussstrich unter der Nazi-Vergangenheit ziehen. »Die Deutschen« im Kollektiv haben sich schließlich öffentlichkeitswirksam mit ihrer Geschichte beschäftigt, sie sind auf die Knie gefallen und haben die Überlebenden ihres Verbrechens hofiert. Ihre Abbitte leisten sie weiter ganz bequem, quasi im Vorbeigehen an den hübschen Stolpersteinen. Dass in den Familien wenig aufgearbeitet ist und kaum Schuld eingestanden wird, gerät beim Hochhalten dieser Erinnerungskultur aus dem Blickfeld.

Es ist wichtig und richtig, dass in Deutschland gemeinsam den Opfern des Nationalsozialismus gedacht wird. Aber das darf nicht die individuelle Beschäftigung mit der Täterschaft ersetzen. 75 Jahre nach dem Verbrechen gibt es für Viele kaum mehr Zeit, die Familienmythen zu korrigieren. Die, die es noch können, sollten mal mutig Oma anrufen und ein paar Fragen stellen. Alle Anderen sollten sich klar machen, dass wahrscheinlich auch hinter Opas Lächeln mal faschistische Gedanken Platz fanden – und dass diese Gedanken ganz leicht in die Köpfe zurückschleichen, die das verdrängen.

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