Samba schmeckt wie der Sommer

Im Londoner East End verschmurgelten Anfang des 20. Jahrhunderts Calypso, osteuropäischer Folk, Music-Hall-Sounds und Jazz: Nun gibt es eine Compilation jiddischer Musik.

  • Jonas Engelmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Jiddisch sei eine Sprache »aus Fremdwörtern«, voller »Eile und Lebhaftigkeit«, hat Franz Kafka 1912 in einem Vortrag angemerkt. Es sei eine grenzüberschreitende und wurzellose Sprache. Die osteuropäisch-jüdische Kultur, die sich dadurch ausgezeichnet hat, dass sie viele Einflüsse in sich vereinte - deutsche, polnische und russische, die religiöse und säkulare Tradition des Judentums, Alltag und Hochkultur, Kabbala und Klezmer -, diese jiddische Lebenswelt ist zunächst durch zahlreiche Pogrome beschädigt und schließlich vom Nationalsozialismus endgültig zerstört worden. Wer konnte, migrierte Ende des 19. Jahrhunderts Richtung Westen, ließ Schtetl und Antisemitismus hinter sich, nur um schließlich anderswo andere Formen der Ausgrenzung zu erleben. Jüdinnen und Juden blieben in den Augen der Mehrheitsgesellschaft Fremde, Außenseiter und Heimatlose. Jiddisch war für viele der aus Osteuropa stammenden Jüdinnen und Juden eine sprachliche Brücke zwischen alter und neuer Welt, in ihr kommt das Grenzüberschreitende jüdischer Geschichte und die Diaspora-Kultur zum Ausdruck. In New York und in Montreal, in Jerusalem und London wurde weiterhin Jiddisch gesprochen, blitzte die osteuropäisch-jüdische Kultur noch immer auf.

Da Jiddisch vor allem Alltagssprache war, sind künstlerische Werke in dieser Sprache lange Zeit nicht in angemessener Weise gewürdigt worden. Die jiddische Musik Großbritanniens etwa sei »unerforschtes Terrain«, schrieb Alan Dein noch vor wenigen Jahren über anglojüdische Schallplattenklänge anlässlich der Ausstellung »Jukebox. Jewkbox! Ein jüdisches Jahrhundert auf Schellack & Vinyl«, die 2014 im Jüdischen Museum Hohenems eröffnet wurde. In den letzten Jahren hat der Historiker und BBC-Autor dieses Terrain selbst erforscht und nun die Compilation »Music Is The Most Beautiful Language In The World. Yiddisher Jazz in London’s East End 1920s to 1950s« zusammengestellt. In den umfangreichen Liner Notes schreibt er davon, wie sich im Londoner Stadtteil Whitechapel jüdische Migranten angesiedelt haben und sich deren kulturelles Gepäck mit der Umgebung vermischte, mit der Musik der Music Halls, der Straßenkünstler und der Pubs.

Den nach London migrierten Jüdinnen und Juden standen vor allem Handwerksberufe offen, und so entschieden sich nicht wenige von ihnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts dafür, stattdessen in der britischen Musikindustrie zu arbeiten, als Performer, Produzenten, Komponisten oder Musiker. Gleichzeitig entstand in Whitechapel eine neue jiddische Kultur, die das Schtetl wieder aufleben ließ, mit jiddischen Zeitungen, jiddischem Theater und mehr und mehr auch jiddischen Songs. Hört man die Aufnahmen aus den Jahren 1926 bis 1959, die Alan Dein zusammengetragen hat, zeigt sich, wie stark diese neue jiddische Kultur von der britischen beeinflusst worden ist: Osteuropäische Folklore, Klezmerklänge und traurige Violinen findet man höchstens als ironisches Zitat, vielmehr verbindet sich der jiddische Gesang mit Music-Hall-Klängen, Orchestern und Jazz. »Yiddisher Samba« von Stanley Laudan etwa besingt diese hybride Kultur, in der jiddische Sprache und westliche Kulturtraditionen keinen Widerspruch bilden: »Yiddisher Samba tastes like summer«.

Laudan war ein Nachtclubbesitzer in Krakau gewesen, wurde dort nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht inhaftiert, floh nach Russland, wurde Sänger und landete schließlich in London. Eine jener typischen jüdischen Biografien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts also, wie sie sich auch inhaltlich in den Songs spiegeln, von denen viele das Leben bzw. die Geschichte des osteuropäischen Judentums thematisieren, beispielsweise die Flucht und Migration und die damit verbundenen Wünsche und Probleme. Songs wie »Selection of Hebrew Dances« (1934) von Ambrose & his Orchestra deuten auf das kulturelle Gepäck, das jüdische Migranten mit sich trugen, »Hebrew Chant« von Leo Fuld (1949) ist ein Klagegesang angesichts der Shoah, und »Bagels« (1935) von Max Bacon oder »A Day in the Lane« (1951) von Baker And Willie with Orchestra blicken auf die damalige jüdische Gegenwart in der britischen Diaspora. Die Songs spiegeln den Konflikt zwischen der osteuropäisch-jüdischen Identität und der vom Wunsch nach sozialem Aufstieg geprägten Assimilation in die britische Mehrheitsgesellschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten tatsächlich viele britische Jüdinnen und Juden den sozialen Aufstieg vollzogen, Jiddisch als Alltagssprache verschwand von den Straßen in Whitechapel und aus den Repertoires jüdischer Künstler.

Schon die nächste Generation jüdischer Musiker - Künstler wie der Songschreiber und Gitarrist Marc Bolan (T. Rex), Malcolm McLaren, der spätere Erfinder der Sex Pistols, oder Mick Jones, Gitarrist der Punkrockband The Clash - hatte den eigenen kulturellen und religiösen Hintergrund hinter sich gelassen.

Alan Dein hat mit der Compilation einen Schatz gehoben, ein vergessenes Kapitel jüdischer Kultur sichtbar gemacht. Ein Kapitel, dessen Ende bereits von den Protagonisten betrauert worden war, wie es »Whitechapel« (1951) von Chaim Towber with Johnny Franks Orchestra deutlich macht. »Whitechapel, das Herz des jiddischen London«, heißt es dort, »wir vermissen deine jiddischen Lieder, Whitechapel, mein Whitechapel, ich sehne mich so sehr nach dir«.

Max Bacon, Stanley Laudan, Johnny Franks u. a.: »Music is the Most Beautiful Language in the World - Yiddisher Jazz in London’s East End 1920s-1950s« (JWM Records/Play Loud!)

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