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Nicht frei von Faschisten
Recherchestelle verzeichnet für Brandenburg 137 antisemitische Vorfälle
Unter Antisemitismus leiden in Brandenburg nicht allein jüdische Mitbürger, sondern darüber hinaus häufig auch Menschen, die eine andere oder gar keine Religion haben. Der Begriff »Jude« wird in solchen Fällen als Beleidigung missbraucht. So erhielt die Landtagsabgeordnete Andrea Johlige (Linke) im Februar 2019 eine E-Mail, in der ihr geschrieben wurde, sie sei eine Jüdin und ihre Familie gehöre ins Lager, ins KZ.
Das ist nur einer von 137 antisemitischen Vorfällen im vergangenen Jahr in Brandenburg, aufgelistet in einem am Mittwoch erschienenen Bericht der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS). Es ist der erste Bericht dieser Art für das Bundesland. 75 Vorfälle lassen sich ganz klar dem rechten Spektrum zuordnen, bei 59 Vorfällen war der politische Hintergrund nicht eindeutig zu erkennen. Fälle von extremer Gewalt mit lebensbedrohlichen Verletzungen war nicht darunter, jedoch sind neben zahlreichen Bedrohungen und Sachbeschädigungen auch sechs Angriffe dokumentiert, darunter drei Körperverletzungen.
Auf die Stadt Potsdam entfallen 23 antisemitische Vorfälle, so viele wie in keinem anderen Landkreis und keiner anderen kreisfreien Stadt. Auf Potsdam folgen die Kreise Märkisch-Oderland und Oberhavel mit je 13 Fällen.
Bei 60 Fällen handelten Einzeltäter, bei 18 Fällen mehrere Täter.
Bei 29 Vorfällen war die Straße der Tatort, bei 16 Fällen das Internet, bei drei Vorfällen der öffentliche Nahverkehr und bei acht Fällen eine Schule.
17 Sachbeschädigungen jüdischer Einrichtungen sind erfasst worden. af
Für die Länder Berlin, Brandenburg, Bayern und Schleswig-Holstein, für die die RIAS-Dokumentationen vorliegen, sind zusammen 1253 Vorfälle gezählt worden, für die übrigen Bundesländer wurden weitere 200 gemeldet, wie RIAS-Bundesgeschäftsführer Benjamin Steinitz am Mittwoch sagte. Angesichts der überbordenden Hetze im Internet erscheint die Zahl 1453 viel niedriger als vielleicht gedacht. Das liege daran, so erläutert Steinitz, dass nur gezählt wurde, was als konkrete Bedrohung von einzelnen Personen oder Institutionen zu werten war.
»Antisemitismus ist und bleibt in Brandenburg ein alltagsprägendes Problem, das belegen die Zahlen des Berichts«, sagt Peter Schüler, Leiter der hiesigen Fachstelle Antisemitismus. Mitarbeiterin Dorina Feldmann ergänzt, man wisse nun zwar mehr. »Viele antisemitische Vorfälle bleiben jedoch weiterhin im Dunkeln.«
Dokumentiert ist etwa ein Übergriff im Mai 2019. Ein Überlebender der Shoa war zu einem Zeitzeugengespräch in Potsdam eingeladen. Da nach der Veranstaltung kein Taxi zu bekommen war, das ihn ins Hotel bringt, nahmen er und seine Begleiter den Nachtbus. Fünf alkoholisierte Fahrgäste pöbelten und wurden auf den Überlebenden aufmerksam, der eine Israelflagge an der Krawatte und einen Davidstern am Revers trug. Jemand griff nach der Krawatte. Die Begleiter des Mannes empfanden die Situation als sehr bedrohlich.
Dazu kommen Hakenkreuze, die beispielsweise in die Tür der Jüdischen Gemeinde im Barnim geritzt oder an einen Imbiss in Zehdenick gesprüht worden sind. Oder eine von Neonazis organisierte Kundgebung, bei der Solidarität mit den inhaftierten notorischen Holocaustleugnern Horst Mahler und Ursula Haverbeck bekundet wurde. In Schipkau wurden die Metalltafeln mit den Namen der Opfer des Verlorenen Transports gestohlen. 51 jüdische Häftlinge des KZ Bergen-Belsen waren dort im Jahr 1945 gestorben. Antisemitisch beschimpft und provoziert wird auch immer wieder die linksalternative Fanszene des Fußballvereins SV Babelsberg 03. Bei einem Pokalspiel gegen den Oranienburger FC Eintracht 1901 (OFC) im Oktober 2019 wurde das Gedenken an die Opfer des wenige Tage zuvor verübten Terroranschlags auf eine Synagoge in Halle (Saale) gestört. Als der Stadionsprecher vor der Partie eine Schweigeminute ankündigte, riefen Anhänger des OFC »Pfui«. Die Babelsberger Fans zeigten später während des Spiels eine Tapete mit der Aufschrift: »Ob Halle oder sonst wo - gegen jeden Antisemitismus.«
»Jüdisches Leben zu fördern und zu schützen, ist angesichts der deutschen Geschichte eine Verpflichtung von historischem Ausmaß«, sagt Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU). »Auch ein halbes Jahr nach dem niederträchtigen Anschlag von Halle müssen wir leider weiter von möglichen antisemitischen Gewaltstraftaten ausgehen. Deshalb stehen wir in engem Kontakt mit den jüdischen Gemeinden und Einrichtungen in Brandenburg und stimmen alle Sicherheitsmaßnahmen im Einzelfall ab.«
Für die Sicherung bewilligte der Landtag Anfang des Jahres zusätzliche Mittel. Im Nachtragshaushalt 2020 stehen dafür 520 000 Euro zur Verfügung. Nach Kenntnis des Innenministers haben »die allermeisten antisemitischen Straftaten einen rechtsextremistischen Hintergrund«.
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