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Sowjetsoldaten auf dem Fußballplatz
Die Städte Chemnitz und Wolgograd sind seit 1988 verbunden.
Was Chemnitz und Wolgograd zusammengebracht hat, war nicht die Geschichte - auch wenn sie beide Städte verbindet. Die Stadt an der Wolga, damals noch Stalingrad, war von August 1942 bis Februar 1943 Schauplatz einer entscheidenden Schlacht des Zweiten Weltkriegs. Die Rote Armee hielt in verlustreichen Kämpfen dem Vormarsch der Wehrmacht stand; Stalingrad wurde dabei zu großen Teilen zerstört. Die Stadt in Sachsen wurde am 5. März 1945 bei Bombenangriffen schwer in Mitleidenschaft gezogen. Wer, wie Eberhard Langer und Juri Starovatych, die Zeit als Kind erlebte, hat also vergleichbare Erinnerungen: der eine an Nächte im Bombenkeller, der andere an die Flucht über den Fluss. »Unsere Kindheit«, sagt Langer, »war sehr ähnlich.«
Dass Starovatych und Langer vor genau 32 Jahren als Stadtoberhäupter von Wolgograd und Karl-Marx-Stadt einen Vertrag über eine Städtepartnerschaft unterzeichneten, hatte Gründe indes nicht in der Historie, sondern in der Wirtschaftsstruktur. »Unsere Partnerstädte waren allesamt Zentren des Maschinenbaus«, sagt Langer, der 1986 bis 1990 Oberbürgermeister war und zuvor selbst ein Kombinat geleitet hatte; er nennt das französische Mulhouse und Manchester in England. Beide waren mit Karl-Marx-Stadt bereits seit 1981 bzw. 1983 vertraglich verbunden; die Partnerschaft mit der sowjetischen Stadt wurde 1988 besiegelt - als Ergebnis einer Art Tauschgeschäft, erinnert sich Langer. Bei einem Besuch des DDR-Staatschefs Erich Honecker in der Bundesrepublik sei eine Partnerschaft von Karl-Marx-Stadt mit Düsseldorf besprochen worden. »Da haben wir gesagt: Vorher wollen wir einen Vertrag mit Wolgograd«, so Langer. »Das hatte für uns einen hohen symbolischen Wert.« Am 8. Mai 1988 wurde das Papier signiert, »das ich so heute noch unterschreiben könnte«.
Mit dem Vertrag wurde eine Beziehung besiegelt, die auch zuvor bereits eng gewesen war: Fußballmannschaften hatten gegeneinander gespielt, Künstler sich getroffen, Großbetriebe wie das Heckert-Kombinat oder der VEB Chemieanlagenbau mit sowjetischen Partnern kooperiert. Unmittelbar vor Abschluss der Partnerschaft »haben wir in Wolgograd einen Kindergarten gebaut«, sagt Langer. Und als in den 80er Jahren das Wohngebiet Fritz Heckert, das zu den größten Neubausiedlungen in der DDR zählte, erheblich wuchs, benannte man die Hauptmagistrale nach der Partnerstadt im Osten: Wolgograder Allee.
Die Beziehungen änderten sich mit den politischen Umbrüchen 1989/90 nicht grundlegend. Abgesehen davon, dass Wolgograd nun zwei Partnerstädte in der größer gewordenen Bundesrepublik hatte - ein Vertrag mit Köln datiert ebenfalls von 1988 - und dass die östlichere der beiden den Namen wechselte: So wie Wolgograd 1961 den Bezug zu Stalin abgelegt hatte, trennte sich Chemnitz nach dem mehrheitlichen Willen der Bürger von Karl Marx. Der Partnerschaft tat das zunächst keinen Abbruch.
Eingefroren wurde diese erst 2014 nach dem Anschluss der Krim an Russland. Der Westen verhängte Sanktionen; die politischen Beziehungen gerieten in eine schwere Krise; und auch von Beziehungen auf kommunaler Ebene habe man in Rathäusern und Verwaltungen »erst einmal die Hände gelassen«, sagt Langer. »Dafür glühte keiner mehr.« Anders war das auf informeller Ebene. Langer ist aktiv im Verein Kolorit, der 2006 als deutsch-russisches Kultur- und Informationszentrum in Chemnitz gegründet wurde und sich für die Belange jener rund 2500 Chemnitzer Familien einsetzt, die biografisch mit der ehemaligen Sowjetunion verbunden sind: Wolgadeutsche, jüdische Kontingentflüchtlinge. Er bietet Sprachunterricht und Sozialberatung, Tanzkurse für Kinder, Lesungen. Ein Hauptprojekt ist die Förderung der Partnerschaft mit Wolgograd.
Der Kolorit e. V. und andere Initiativen - ein Puschkin-Club, ein Tolstoi-Verein, eine Arbeitsgemeinschaft Deutsch-Russische Freundschaft - hielten in den schwierigen Jahren die Kontakte. Seit 2017 gibt es auch auf offizieller Ebene einen vorsichtigen Neuanfang. Damals fand in Krasnodar eine deutsch-russische Städtepartnerschaftskonferenz statt. In einer Erklärung hieß es, man hege den »gemeinsamen Wunsch«, über kommunale und regionale Verbindungen den »Dialog und das Verständnis zwischen unseren Gesellschaften« zu stärken: »Gerade in politisch schwierigen Zeiten kommt es auf sichtbare Zeichen der Zusammenarbeit an.«
2018 feierten Chemnitz und Wolgograd daraufhin den 30. Jahrestag ihrer Partnerschaft. Seither wurden Pläne geschmiedet. Nicht nur soll der Schüleraustausch zwischen der Chemnitzer Annenschule und der 93. Wolgograder Schule ausgeweitet werden. Vorgesehen ist auch, Arbeitskontakte zwischen den Industrie- und Handelskammern aufzunehmen, Chemnitzer Unternehmen bei Investitionen zu unterstützen, Studenten und Lehrlinge auszutauschen. Selbst Pläne zur Einrichtung »Ständiger Vertretungen« wurden mit dem russischen Generalkonsulat besprochen.
Der Verein spielt eine Schlüsselrolle, wenn es darum geht, die Städtepartnerschaft mit Leben zu füllen - zusammen mit vielen gebürtigen Chemnitzern, die sich Russland verbunden fühlen, weil sie dort studiert oder gearbeitet haben oder persönliche Kontakte pflegen. So seien etliche frühere Werksleiter in seinem Kombinat an Hochschulen in der UdSSR gewesen und hätten dort geheiratet, sagt Langer. Er selbst habe als fußballbegeisterter Oberbürgermeister die Hilfe der »Freunde« geschätzt, wenn eine Kompanie Sowjetsoldaten aus der ortsansässigen Kaserne das eingeschneite Spielfeld des FC Karl-Marx-Stadt spielbereit trampelte. »Da gab es sehr vernünftige Beziehungen.«
Die wünschen sich Langer und viele andere auch heute. Das Interesse daran sei in Russland freilich stärker als auf deutscher Seite: »Die Menschen dort strahlen eine unglaubliche Freundschaft aus«, sagt er. Deutsche würden mit viel Offenheit empfangen - was angesichts der Kriegserfahrungen bemerkenswert sei. Wolgograd verstehe sich schon seit den Kriegsjahren als »Zentrum der zivilgesellschaftlichen Diplomatie«, erklärte bei einem Besuch in Chemnitz 2019 der Vorsitzende der Wolgograder Duma, Andrej Kosopalov. Vor 75 Jahren habe man zusammen mit dem ebenfalls kriegszerstörten britischen Coventry eine »Bewegung der Partnerstädte« begründet, deren Ziel die »Bewahrung des Friedens« sei.
Langer appelliert, solche Beziehungen zu vertiefen - statt auf Eskalation zu setzen. Manöver wie die von der Nato geplante Übung »Defender 2020« lehnt er ab: »Mit unseren Erfahrungen sehen wir das mit größten Aversionen.« Er plädiert dafür, im Gespräch zu bleiben. Rund um den 8. Mai sollte es dazu viele Gelegenheiten geben: Zum Tag der Befreiung hätte »eine ganze Reisegesellschaft« in die Partnerstadt fahren sollen. Daraus wurde wegen Corona nichts. Aber die Pandemie wird vorübergehen. Und dann wird hoffentlich nachgefeiert. »Die Beziehungen«, sagt Langer jedenfalls, »werden zum Glück wieder besser.«
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