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Die Zukunft der Vergangenheit
Was bedeutet es für die Erinnerungskultur, wenn die Zeitzeugen fehlen?
Sandra Nussbaum war noch ein kleines Kind, als sie mit ihrer Familie vor den Nazis aus Deutschland fliehen musste. Sie ist mehrsprachig aufgewachsen. Nach der Flucht sprach sie nie wieder Deutsch mit ihren Eltern. Zuerst lebte die Familie in Antwerpen, später ging sie in die Schweiz. Auf dem beschwerlichen Fußmarsch kamen sie an zwei Leichen vorbei; die Menschen waren erfroren. Jahre später erzählte ihr die Mutter, wären die Kinder nicht gewesen, hätte sie sich wohl auch zum Ausruhen niedergesetzt.
Nussbaum erzählt ihre Geschichte in einem voll besetzten Hörsaal an der Leipziger Universität. Sie hat Freude daran, zu provozieren. Den Studenten stellt sie herausfordernde Fragen: Was hättet ihr getan? Was glaubst du, wie wir den neuen Antisemitismus in den Griff bekommen? Nussbaum lebt in Frankreich, mit Vorträgen hat sie angefangen, um ihr Deutsch zu verbessern. Lange macht sie das noch nicht. Erst als es nicht mehr viele Menschen gab, die die Konzentrationslager überlebt haben und davon berichten, sei das Interesse an ihrer Geschichte gestiegen, glaubt Nussbaum.
Was passiert, wenn es diese Unmittelbarkeit nicht mehr gibt, wie Sandra Nussbaum sie im Gespräch mit jungen Leuten ausstrahlt? Die ganz persönliche Berührungskraft eines individuellen Schicksals.
Drei Momente werden fehlen, meint Volkhard Knigge, seit diesem Mai ehemaliger Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Dora-Mittelbau. Das eine sind die Zeugen der Verbrechen als Veto-Instanzen gegen den Missbrauch von Geschichte. Gegen Holocaust-Leugnung wie gegen schiefe Vergleiche seien die Überlebenden eine Stimme, die im politischen Raum ungleich mehr Kraft entfaltet habe.
Das Zweite sind die unmittelbaren Begegnungen. Diese konkreten Menschen haben ein Leben, das ein »Vor«, ein »In« und ein »Nach« der Verfolgung umfasst. Nicht nur ihre Zeugnisse der Grausamkeiten zählen, sondern auch die Art, wie sie damit umgegangen sind, wie sie weiterleben. Dass Schläge wehtun, dass Hunger zum Tode führt - diese »Empirie des Grauens« ist ein wichtiges Zeugnis. Der Kern dessen, was uns die Überlebenden lehren, ist aber die Frage, wie solche Menschenfeindlichkeit staatlich, gesellschaftlich und kulturell produziert wurde. Wie kommt es dazu, dass Gewalt und Hass legitimiert werden?
Mit dieser Frage hat sich Volkhard Knigge fast ein Vierteljahrhundert als Gedenkstättenleiter beschäftigt. Täglich fuhr er von Weimar in die Gedenkstätte Buchenwald. Das diesjährige 75. Gedenken an die Befreiung des Lagers war seine letzte offizielle Amtshandlung. Noch eine dritte Dimension ist ihm wichtig: »Wir verlieren sehr gute Freundinnen und Freunde.« Es sei berührend zu erleben, wie Menschen ihre Verfolgungserfahrungen nicht in Hass verwandeln. Voraussetzung für Freundschaften sei die Anerkenntnis historischer Schuld. Das erfordert eine Auseinandersetzung mit der Geschichte. Ohne das Eingeständnis einer historischen Schuld gebe es keine Versöhnung.
Wie steht es um die Zukunft des Erinnerns? Bis jetzt könne man die Erinnerungskultur in Deutschland als Erfolgsgeschichte mit Umwegen bezeichnen, meint Knigge. In Westdeutschland wollte man die Zeugen lange Zeit nicht hören. Sie waren der lebende Beweis dafür, dass anders hätte gehandelt werden können, dass Widerstand möglich gewesen wäre. In der DDR habe der Erinnerungskultur wiederum der Gegenwartsbezug gefehlt. Die Überlebenden wurden geehrt, doch der Faschismus wurde als an den Wurzeln ausgerottet betrachtet.
Inzwischen sei die Erinnerungskultur im Mainstream angekommen, meint Knigge. Und fügt lächelnd hinzu, dass dies ja prinzipiell etwas Gutes sei. Es gehe aber darum, in dem Dauerrauschen, als das viele Jugendliche die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte wahrnehmen, klarzumachen, dass Erinnern etwas Lebensnotwendiges und Gegenwartsbezogenes ist.
In Leipzig endet die Veranstaltung mit Sandra Nussbaum im Streit. Einige Studentinnen und Studenten stören sich an den Aussagen von Nussbaum zum modernen Antisemitismus, zu Israel und der Erinnerungskultur in Deutschland. Vielleicht ist auch das eine notwendige Erkenntnis: dass die Überlebenden keine Heiligen sind und sich nicht dazu eignen, immer nur die eigene Position zu stärken.
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