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»Ich gratuliere zum Sieg«
Wie Aleksandr Iwanowitsch Kusnezow den Berliner Reichstag eroberte – und endlich feiern konnte
Im Frühjahr 1945 drang die 1. Belorussische Front bis zur Oder vor, und wir bauten unsere Stellung aus. Die Deutschen griffen die ganze Zeit über an. Unweit unseres Standorts befanden sich die zweite und die dritte Verteidigungslinie der 3. Stoßarmee. Ich war Zugführer bei der Infanterie.
Es lag Schnee, Eis trieb auf dem Fluss, und unsere Jungs bauten eine Pontonbrücke. Ich sah sie im Fernglas, eineinhalb Kilometer von uns entfernt. Über die Brücke fuhren dann Panzer und Lastwagen. Am Anfang waren nirgends Deutsche zu sehen, aber dann trafen wir sie. Sie liefen weg. Einige blieben auch stehen, warfen ihre Waffe weg und rissen die Arme hoch. Wir stießen fast die ganze Nacht lang voran - 72 Kilometer, fast ohne Kämpfe. Wir umgingen die Seelower Höhen und bewegten uns von Norden auf Berlin zu. In der Stadt Werneuchen, rund 20 Kilometer von Berlin entfernt, durften wir acht Tage ausruhen, um uns auf den Sturm auf die deutsche Hauptstadt vorzubereiten.
Aleksandr Iwanowitsch Kusnezow, Jg. 1925, nahm an der Erstürmung Berlins und der Eroberung des Reichstags teil. Aufgewachsen in Archangelsk, einer Stadt im Norden Russlands, hatte er sich nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion 17-jährig zur Roten Armee gemeldet und wurde Kommandeur einer Granatwerfereinheit. Er kämpfte bei Smolensk, Minsk, Warschau und Posen. Ab 1944 gehörte er zum Offizierskorps der 3. Stoßarmee. In den ersten Nachkriegsmonaten war Kusnezow in Magdeburg stationiert. Er erzählte der deutschen Historikerin Dr. Elke Scherstjanoi seine Geschichte und gestand ihr dabei, dass er trotz abenteuerlicher Erlebnisse im besetzten Deutschland das »fremde Land«, das er mit besiegt hatte, bald »richtig satthatte«. Nach dem Krieg arbeitete er zunächst als Lehrer und besuchte dann ein Technisches Institut.
Im September wird voraussichtlich die Lebensgeschichte von Kusnezow im Verlag Edition Schwarzdruck erscheinen, herausgegeben von Elke Scherstjanoi.
Dann kam der Befehl: »Aufsitzen!« In nur einer Stunde brachten uns die Lastwagen nach Berlin, an den Stadtrand, wir sahen die ersten Gebäude. Und schon ging es los: Wir, eine kleine Abteilung mit wenig Mann, erstürmten Straßen, Häuser und Keller. Es gab einige gefährliche Momente. Der Regimentsstab orientierte sich an Karten, uns gab man sie nur zur Orientierung für den Fall, dass wir auf einer Straße stehen oder uns in Kellern verstecken mussten. Das Ganze war ein schrecklicher Fleischwolf. Es hieß, manch eine Sturmabteilung ging los und von den fünf bis sieben Mann kehrten nur zwei oder drei zurück. Ich war sieben Mal unmittelbar an den Kämpfen einer solchen Sturmgruppe beteiligt, Tag und Nacht. Es gab keine Zeit zum Schlafen, nur manchmal einen glücklichen Moment des Schlummerns.
Dreckig sahen wir aus. Wir konnten uns ja nicht waschen, griffen nur in den Kellern, wo die Bewohner ihre Vorräte hatten, etwas vom Eingeweckten, Kirschmarmelade oder so was. Ich erinnere mich an keine Straßennamen, es gab nur Beschuss, rechts und links. Das einzig Wichtige war, dass die Maschinenpistole funktionierte … Erst als es hell war, sahen wir den Dreck im Gesicht des anderen, die roten Augen und die Zähne. Richtige Wilde waren wir geworden. Diese zwei Wochen lief alles auf eins hinaus: den Feind zu schlagen. Vorwärts, vorwärts, vorwärts. Der Regimentskommandeur war schon 62 Jahre alt, ein Kommandeur aus dem Bürgerkrieg. Gebildet, hatte viel gesehen im Leben und kam in jeder Lage zurecht, auch ohne Karte. Ich war 19.
Warum die Deutschen im letzten Moment noch so stark Widerstand leisteten? Es war eben nicht jedem von ihnen klar, dass schon alles aus war. Sie kämpften für ihre Heimat, genauso, wie wir für unsere gekämpft hatten. Ich verstand sie sogar. Aber es war eben Krieg, und wir hatten unseren Befehl. Die 3. Stoßarmee sollte bis zum Reichstag vordringen und ihn einnehmen. Und schließlich sahen wir ihn, den Reichstag. Es war gegen Morgen, Sonnenaufgang. Wir befanden uns schon im Gebäude, und doch waren noch zwei bis drei Stockwerke einzunehmen. Die Wände bestanden aus großen, heilen Granitblöcken. Mit der Artillerie waren sie nicht zu nehmen. Wir schossen mit einer Panzerfaust, versuchten es mit einer Brandflasche. Die letzten Deutschen ergaben sich, als sie keine Patronen mehr hatten.
Es fällt schwer, dieses Kampfgeschehen zu schildern, bei dem du nicht wusstest, lebst du noch oder lebst du nicht mehr. Ich ritzte meinen Namen in eine Wand des Reichstags, vielleicht ist er dort noch zu lesen. Am 2. Mai hatten wir Berlin genommen. Das Kampfgeschehen endete am Morgen, wir blieben noch bis zum Mittag am Reichstag. Hier war der Krieg, der eigentlich noch weiterging, für uns nun zu Ende. Versprengte Gruppen in verschiedenen Bezirken setzten unseren Soldaten noch zu. Sie hatten aber keine Munition mehr, sogar die Offiziere warfen ihre Pistolen weg.
Der Krieg war beendet und wir dachten: Es ist Zeit, zusammenzukommen. Man sagte uns: »Bringt euch in Ordnung. Da, wo die Kleidung zerrissen ist, näht sie wieder zusammen, rasiert euch.« Seife und ein Handtuch hatte jeder Soldat bei sich. Von meinem Zug waren nur elf Soldaten, der Sergeant Orlow und ich übrig geblieben. Vom Stab noch über 30. In Werneuchen bestand das Regiment noch aus ungefähr 2000 Mann, und nun waren so wenig übrig geblieben. Ich weiß nicht, wie es kam, dass ausgerechnet ich am Leben blieb. Zu meiner Truppe hatten junge Sibirier aus der Stadt Omsk gehört. Zu Hause waren sie Jäger, sie wussten im Umgang mit Waffen Bescheid.
Ich kämpfte mit diesen Jungs, wir halfen uns gegenseitig. Schade, dass sie nach Hause zurück nach Sibirien fuhren, ohne für ihre Verdienste, für Berlin eine Auszeichnung bekommen zu haben. Wir haben damals nichts bekommen - und auch nichts erwartet. In der Zeitung stand unlängst, dass über eine Million fertig gestanzte Orden für die Jahre des Vaterländischen Kriegs nicht ausgegeben worden sind. Da kann man ja mal nachrechnen: Wenn jedes Stück nur zehn Gramm Silber wiegt, wie viel das ist. Ein ganzer Waggon Silber wahrscheinlich. Aber dies haben sich wohl andere eingesteckt.
Ich besitze aber noch eine Urkunde von Stalin: »Unterleutnant Kusnezow, Aleksandr Iwanowitsch, wird mit Befehl des Oberbefehlshabers der Armee, Marschall der Sowjetunion, Genossen Stalin vom 2. Mai 1945 für die Einnahme Berlins der Dank ausgesprochen.« - Ein gutes Dokument.
Die 3. Stoßarmee blieb noch lange in Berlin. Wir lagerten zuerst in einer Straße nicht weit vom Brandenburger Tor. Wir sorgten für Ordnung, forderten Menschen auf, die Straßen zu reinigen, Ziegelbruch aufzusammeln usw. Da ich Kommandeur war, sah ich überall nach dem Rechten und befahl, Posten aufzustellen. Ich führte damals die erste und einzige Kompanie im Regiment, 32 bis 34 Mann. Damit die Deutschen in Fahrt kamen, mussten wir sie kommandieren. Ich bekam zwei deutsche Helfer zugeteilt, die übersetzten. Ich beschimpfte niemand, ich sagte nur: »Hier muss aufgeräumt werden. Säubern Sie diese Schuttstelle. Genau hier.« Und sie trugen dann Stein für Stein von dieser Stelle zu einer anderen. Wenn die Ziegel noch ganz waren, wurden sie gestapelt. So waren sie die ersten Monate voll beschäftigt - Frauen, Alte, verwundete Soldaten, auch Versehrte. Manche Deutschen mussten wir aus ihren Winkeln herausholen. Wir sagten, sie sollten arbeiten, aber sie zuckten nur mit den Schultern. Schließlich mussten sie doch ran. Noch immer ist das alles in meiner Erinnerung schrecklich, besonders wenn ich an unsere Leute denke.
Als der Krieg zu Ende war, gab der Regimentskommandeur am 4. Mai ein Fest für uns: »Tag des Sieges - wir trinken auf den Reichstag!« Wir kamen in der Reichstagswache zusammen. Am 4. Mai war noch kein Frieden, doch Berlin hatte schon kapituliert. Wir gingen in einen Saal - und dort waren, mein Gott, Tische aufgestellt mit weißen Tischtüchern. Geschirr stand darauf, alles Kristall. Alles glänzte, alles war sauber. Alle saßen wir schon, und als der Regimentskommandeur kam, standen wir auf und begrüßten ihn. Er sagte: »Setzen Sie sich. Nun, Genossen, wie stets? Alles bereit? Dann lassen Sie uns beginnen.« Auf den Tischen lag Konfekt aus dem Reichstag, Sahne und süße Torte, Brot und Gebäck. Es gab auch Wurst aus Konserven. Die Tische brachen förmlich zusammen unter den Lebensmitteln der Deutschen.
Und auch Frauen aus dem Stab waren erschienen. Und danach sagte ein Offizier: »Was sollen wir machen, hier steht Geschirr, aber wir haben nichts in die Gläser zu füllen.« Ein Oberst antwortete: »Da ist eine Überraschung. Öffnet die Ecke, die mit einem Vorhang bedeckt ist, da gibt es etwas.« Nun, die Offiziere, darunter auch ich, liefen sofort hin. Da stand ein Fass Wein - ein guter Wein aus den Kellern des Reichstags. Wir drehten den Hahn auf und schenkten ein. Der Regimentskommandeur sagte: »Ich gratuliere zum Sieg über den Reichstag! Hoffen wir, dass der Krieg bald zu Ende geht!« Wir tranken, dann tischte man Vorspeisen auf, und anschließend brachten die Frauen jedem gebratenes Fleisch. Ich musste leider bald zur Wache zurück. Alles war ruhig geblieben.
Ja, es gab da noch diesen Spreetunnel, angelegt, um alle Räume des Reichstags zu überfluten. Am 4./5. Mai hatte ich den Befehl, eine Gruppe für dessen Räumung zu organisieren. 700 Meter waren das. Es zeigte sich, dass sich in diesem Tunnel noch eine große Gruppe Deutscher versteckt hatte. Sie hatten sich verbarrikadiert, der Ausgang war mit Ziegelsteinen verschlossen. Man holte Pioniere der Division heran. Ich bat, mir eine mobile Elektrostation zur Verfügung zu stellen, um Licht in den Tunnel zu bringen. Und dann befahl ich: »Vorwärts!« Ich lief 15 bis 20 Schritte vor, plötzlich hörte ich hinter mir eine Explosion. Mich traf es wie mit dem Vorschlaghammer, in der Schulter rechts krachte es. Ich verlor das Bewusstsein, lag am Boden, auf mich fiel Ziegelwerk.
Es vergingen einige Stunden, bis man mich fand. Der Sanitäter kam mit zwei Soldaten. Sie trugen sie mich fort, brachten mich im Auto ins Feldhospital. Dort konnten sie mich wieder in Ordnung bringen, vier Stunden dauerte die Operation. Am zweiten oder dritten Tag wachte ich auf. Alle saßen an meinem Bett, auch eine Frau mit Spritzen. Sie gab mir eine und ich öffnete die Augen. Na, Gott sei Dank! Meine erste Verwundung hatte ich bei Minsk, die zweite in Berlin. Die Schulter war gebrochen, ich hatte eine ernsthafte Verletzung der Wirbelsäule. Einen Monat lang lag ich im Hospital. Die Jungs, die mich besuchten, sagten: »Wir warten auf dich!« Und da flüchtete ich aus dem Lazarett zu meiner Truppe.
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