- Politik
- US-Sozialisten und Joe Biden
Die Linke und das kleinere Übel
Anders als in der Vergangenheit unterstützen die Democratic Socialists of America den Präsidentschaftskandidaten der Demokraten 2020 nicht
Es geht um eine alte Frage, und jetzt gibt es neue Antworten. Sollen Linke das kleinere Übel nicht nur wählen - klammheimlich und mit Bauchschmerzen am Wahltag -, sondern es gar offiziell mit ihren Organisationen unterstützen? Diese Frage und den des Umgangs mit Joe Biden, dem voraussichtlichen Präsidentschaftskandidaten der US-Demokraten, beschäftigt gerade die Aktivisten der Democratic Socialists of America (DSA) in den USA. In der Debatte um die Frage geht es um den eigenen Idealismus, aber auch um pragmatische taktische Erwägungen - und es zeigt sich auch ein Generationenkonflikt. Auslöser der aktuellen Debatte war ein Tweet vom offiziellen Twitter-Account der DSA.
»DSA unterstützt Joe Biden nicht« stand in dem Tweet von Mitte April, mehr nicht. Nach dem DSA-Tweet brach ein Sturm der Entrüstung und des Voter-Shaming von Biden-Unterstützern und bürgerlichen Journalisten los: Ob die Sozialisten eine zweite Trump-Amtszeit wollten, wurde da gefragt. Ein weiterer Vorwurf: privilegierte weiße Linke würden so marginalisierten Communities dringend benötigte Hilfe verweigern. Kurz vor dem Tweet der DSA hatte Bernie Sanders zuerst seine Kampagne suspendiert.
Wenige Tage später hatte Sanders dann Joe Biden seine offizielle Unterstützung ausgesprochen und seine Anhänger aufgerufen, es ihm gleich zu tun. Der DSA-Tweet passte jedoch zur trotzigen Haltung viele linker Aktivisten in dem sozialen Netzwerk, die monatelang Biden für seine jahrzehntelange Politikgeschichte kritisiert hatten, seine politischen Positionen ablehnen und auch seine Geschichte unpassender Berührungen von Frauen, die von unangenehmen Kommentaren bis hin zu Missbrauchsvorwürfen reicht, problematisieren.
Doch vor allem entsprach es der Beschlusslage der Aktivistenorganisation. Auf ihrer Convention im August 2019 hatte die DSA in einer Resolution beschlossen, nur Bernie Sanders ihre Unterstützung auszusprechen und kein Endorsement, also keine Fürsprache, an einen anderen Kandidaten zu vergeben. Die Mehrheit der rund 1200 Delegierten, die vorher von ihren Genossen aus den 200 DSA-Ortsgruppen gewählt worden waren, hatten sich der Resolution angeschlossen. Der Beschluss des höchsten Entscheidungsgremiums der auf über 60.000 Mitglieder angewachsenen Organisation war also breit und basisdemokratisch legitimiert.
Schon bei der Debatte um den Beschluss auf der Convention in Atlanta meldeten sich besorgte Delegierte, die befürchteten, damit würde ein möglicherweise entscheidendes Engagement für den Demokraten-Kandidaten durch DSA-Mitglieder in Swing States wie Michigan verhindert. Das sei nicht der Fall, jedes Einzelmitglied oder jede Ortsgruppe stehe es frei, für Joe Biden zu stimmen, oder sich gar am Haustürwahlkampf für ihn zu beteiligen, erklärten die Aktivisten, die den Beschluss eingebracht hatten.
Sie befürchteten vielmehr - offenbar in weiser Voraussicht auf das, was jetzt eingetreten ist - das nach einem möglichen Vorwahlsieg auch die DSA wie alle linken oder linksliberalen Organisationen unter großem Druck stehen würden, Joe Biden ein offizielles Endorsement auszusprechen. In vergangenen Jahrzehnten hatte die DSA das oft getan, schließlich galt es vermeintlich Schlimmeres zu verhindern, nämlich die Wahl eines Republikaners.
Ein All-Hands-On-Deck-Moment?
Diese Linie fortsetzen wollten rund 60 ältere Mitglieder und ehemalige Aktive der historischen Students for Democratic Society (SDS), die sich nach dem DSA-Tweet empört mit einem offenen Brief zu Wort meldeten. Die Alt-68er wollten die neue Generation vor dem Wiederholen der eigenen Fehler als Aktivisten der SDS warnen, sahen ein jugendliches Verrennen in folgenlosen Idealismus und linkes Sektierertum am Werke. »Einige auf der Linken können offenbar den Unterschied zwischen einem Protofaschisten und einem kapitalistischen Demokraten nicht erkennen«, kritisierten sie.
Unter Verweis auf die Entwicklung in Deutschland vor dem Nationalsozialismus, wo »Sozialisten und Kommunisten sich bekämpften, so das Hitler vorbeischleichen konnte und sie dann alle ermorden konnte«, sei nun ein »All hands on Deck«-Moment gekommen. Auch DSA-Aktivisten müssten »hart dafür arbeiten«, dass Joe Biden gewählt wird. In einer Art antifaschistischen Volksfront müsse mit der Wahl von Joe Biden die Demokratie verteidigt werden.
Die SDS-Aktivisten können auf Folgendes verweisen: Wegen der hohen parteipolitischen Polarisierung und der deswegen kleinen Zahl überzeugbarer Wähler, werden Präsidentschaftswahlen heute mit nur wenigen tausend Stimmen entschieden. 2016 gewann Trump den entscheidenden Swing State Michigan mit nur rund 11.000 Stimmen Vorsprung – die Grünen-Kandidatin Jill Stein erhielt im Staat 51.000 Stimmen. Soll heißen: Die Demokraten können vielleicht ohne die DSA gewinnen, nicht aber ohne linke Wähler im weiteren Sinne – doch wer mobilisiert die?
In den letzten Wochen ging die Debatte mit Beiträgen im altehrwürdigen linken Magazin »The Nation« und in »Jacobin«, der Publikation der hippen Jung-Sozialisten, weiter. »Ich bin mir sicher das die übergroße Mehrheit der DSA-Mitglieder, vor allem solche in Swing States für Biden stimmen werden«, erklärte der ehemalige stellvertretende DSA-Direktor David Duhalde. Die Suggestion der SDS-Altvorderen, junge Radikale würden einer anarchistischen Verelendungsstrategie folgen, nach der es erst noch schlimmer werden müsse, bevor es besser werden könne, sei falsch.
Auch eine Ressourcenfrage
Die Tage der »paper endorsements« seien einfach vorbei. Anders als die symbolischen Unterstützungserklärungen für demokratischen Präsidentschaftskandidaten durch eine DSA, die noch vor 2016 weitgehend ein Diskussionsklub linker Professoren war, nehme die Organisation heute ein Endorsement ernst. Eine Unterstützung eines Kandidaten würde heute »nicht nur eine öffentliche Erklärung, sondern das Investment von kollektiven Ressourcen und die Arbeit von Hunderten Aktivisten bedeuten«. Und diese Aktivisten – so das Argument viele DSA-Mitglieder - haben gerade genug andere Dinge zu tun: Sie organisieren Beschäftigte in Arbeitskämpfen, unterstützen lokal eigene Kandidaten bei Wahlen und leisten Selbsthilfe in der Coronavirus-Krise. Sprich: Joe Biden und die Establishment-Demokraten müssen es ohne DSA-Hilfe schaffen, genügend Wähler zu mobilisieren.
Jacobin-Chefredakteur Bhaskar Sunkara verteidigte den DSA-Tweet und die Position der vermutlich meisten Mitglieder auch mit Kritik an der älteren Generation. 40 Jahre lang seien progressive Organisationen von den Demokraten einverleibt und domestiziert worden. Statt Wahlkampf für Biden zu machen gelte es mittels »steady institution building«, dem stetigen Aufbau eigener politische Institutionen, die Linke aufzubauen: »Wir leben nicht in den 30ern und sozialistische Intellektuelle können eine Einheitsfront nicht einfach durch schieren Willen herbeizaubern«. Sunkara steht damit für eine selbstbewusstere junge DSA-Generation, die mittlerweile die Organisation dominiert. Sie arbeitet zwar pragmatisch mit den Demokraten, will aber ihre Unabhängigkeit bewahren.
Doch eine formal unabhängige DSA könnte auch aus wahltaktischen Gründen für beide Seiten von Vorteil sein. Das zeigt die beinahe erfolgreiche Kampagne von Stacy Abrams zur Gouverneurin von Georgia 2018. Der konservative Südstaat ist traditionell ein Hort der Reaktion. Die Wahl einer Demokratin, zumal einer zumindest irgendwie eher fortschrittlichen, war eine starke Versuchung für die linken Aktivisten vor Ort. Die DSA-Ortsgruppe in Atlanta veröffentlichte schließlich ein Statement zur »kritischen Unterstützung« von Abrams - ein Fehler, wie sich später herausstellte. Die Republikaner waren erfreut. Sie machten mit der Quasi-Unterstützungserklärung der DSA Gruppe Wahlkampf gegen Abrams, nutzten das Statement wochenlang in »Red Scare«-Fernsehanzeigen, um Abrams als gefährliche Sozialistin darzustellen. Die Demokratin verlor knapp.
Anfang Mai versuchten offenbar einige Mitglieder im Nationalen Politischen Komitee (NPC) der DSA eine Resolution zu Abstimmung zu bringen, die die Ortsgruppen auffordern sollte sich zu Biden zu positionieren. Der Versuch schlug offenbar fehl. »Jede noch so kritische Unterstützung für Joe Biden würde uns selbst untergraben«, erklärte ein NPC-Mitglied auf Twitter ihre Ablehnung.
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