Recht auf häusliche Quarantäne

In Berlin-Mitte öffnet die erste Unterkunft für obdachlose Coronakranke

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 4 Min.

Wir haben Menschen aufgenommen, die wohnungslos sind und bereit, unsere Hausregeln zu akzeptieren«, beschreibt Theresa Hellmund von der Berliner Stadtmission das Aufnahmeprozedere in der Lehrter Straße 68. Hier, in unmittelbarer Nähe zum Hauptbahnhof, befindet sich die dritte im Zuge der Coronakrise eröffnete Notunterkunft für wohnungs- und obdachlose Menschen, die 24 Stunden am Tag geöffnet ist. Zu den Regeln gehöre etwa, im Haus und auf dem Gelände auf Alkohol, Drogen und Gewalt zu verzichten, so Hellmund, die die Einrichtung leitet. Hunde und andere Tiere dürften aber mitgebracht werden. »Wer die Regeln missachtet, muss ausziehen«, erklärt Hellmunds Stellvertreterin Anna Behnke gegenüber »nd«. Dies treffe zurzeit noch auf die meisten zu, die die Unterkunft wieder verlassen, manche kämen aber auch einfach woanders unter, erklärt sie. Immer dienstags um zehn Uhr vergebe man freie Plätze.

Ein »Schutzraum für Grundbedürfnisse« soll die Unterkunft in der Lehrter Straße laut Stadtmission sein - und zugleich vor einer Covid-19-Infektion schützen. Im Fall einer Erkrankung infolge des Coronavirus gibt es hier zusätzlich ab dem 18. Mai eine Quarantänestation für Obdachlose mit 16 Betten. »Das Angebot richtet sich an obdachlose, allein lebende Männer und Frauen, die unversorgt und ohne Zugang zu einer Unterkunft sind und deren Möglichkeiten zur Selbsthilfe stark eingeschränkt sind«, erklärt Barbara Breuer, Sprecherin der Stadtmission, zur offiziellen Eröffnung am Mittwoch.

Viele von ihnen gehören in der Coronakrise zur gesundheitlichen Risikogruppe. Suchterkrankungen, psychische und körperliche Einschränkungen sowie Begleiterkrankungen können einen schweren Verlauf begünstigen. »Auf diese Quarantänestation kommen nur diejenigen, die eine bestätigte Infizierung haben, aber keinen schweren Krankheitsverlauf«, so die Sprecherin. Hier seien die Menschen unter medizinischer Beobachtung und würden mit der Situation nicht allein gelassen. Bäder, Toiletten, ein Aufenthaltsraum, ein Raucherzimmer und eine Patient*innenküche gehören zur Einrichtung. Es gibt drei Mahlzeiten am Tag und kostenloses WLAN.

Die Mitarbeiter*innen sollen durch eine neu gebaute Hygieneschleuse und entsprechende Schutzkleidung vor Ansteckungen geschützt werden, auch medizinische Betreuer*innen sind rund um die Uhr vor Ort. Patient*innen dürfen bis zu ihrer Gesundung das Gebäude nicht verlassen. Bei Verstößen werde man Polizei und Gesundheitsamt verständigen, heißt es. Auf 1000 Euro pro Monat belaufen sich die Kosten für einen Quarantäneplatz, auf rund 205 000 Euro die Angebote der Lehrter Straße insgesamt. Den Betrag übernehmen zu gleichen Teilen der Bezirk Mitte, die Senatsverwaltung für Finanzen und die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales.

Seit 2002 befindet sich im Gebäude die »große« Notübernachtung der Stadtmission. In der Zeit der Kältehilfe von Oktober bis März finden hier täglich durchschnittlich 150 Menschen Zuflucht. In diesem Jahr kam es mit der Pandemie nicht nur anders, sondern schlimmer. Die Kältesaison war noch nicht vorbei, da begann bereits die »Corona-Saison«. Als innerhalb weniger Tage die Eindämmungsverordnungen zur Kontaktbeschränkung beschlossen wurden, verschärfte neben der nahenden Schließung der Notübernachtungen auch die der Tageseinrichtungen die Situation für wohnungs- und obdachlose Menschen. Sie waren damit plötzlich ebenso von der notwendigen Unterstützung bei der Versorgung mit Kleidung, Lebensmitteln, sozialen Angeboten und Duschmöglichkeiten abgeschnitten.

Bei vielen Trägern lief sofort eine neue Art Notversorgung an, viele Hauptstädter*innen engagierten sich spontan freiwillig - vor allem dort, wo ehrenamtliche Hilfe ausfiel, weil Helfer*innen selbst zu Risikogruppen gehörten. Forderungen nach alternativen Unterkünften führten in Berlin nicht dazu, dass - wie etwa bereits Anfang April in Hamburg oder Mainz - Obdachlose in leere Hotels einziehen konnten, um sie vor Ansteckung zu schützen.

Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) setzte stattdessen auf die Schaffung von gemeinsam mit Bezirken und Sozialverbänden getragenen Sammelunterkünften. So öffneten nach längeren Verhandlungsprozessen drei Einrichtungen mit insgesamt 400 Plätzen ihre Türen - zuletzt die Lehrter Straße. Hier haben 106 Menschen Platz, zu 90 Prozent handele es sich dabei um Männer, sagt Anna Behnke. Frauen hätten aber Priorität bei der Unterbringung. Es gibt Zweibettzimmer für Rollstuhlfahrer, 62 weitere Personen können in Dreibettzimmern wohnen - jeweils mit eigenem Bad. 30 Plätze gibt es in Sechsbettzimmern mit Gemeinschaftsbädern.

»Dauerhafte Plätze in Zimmern, hauptamtliche Sozialarbeitende, medizinische und psychologische Beratung«, gab Elke Breitenbach angesichts der Pandemie als Maßstab vor. Dauerhaft heißt jedoch: bis Ende Juni. Von einem Ende der Krise ist bis dahin nicht auszugehen. Das Angebot einer Sozialberatung sei deshalb verpflichtend, sagt Anna Behnke. »Sonst ist, wenn wir hier wieder Schluss machen, der Schock für die Leute umso größer«, befürchtet sie. Nur eine langfristige Perspektive helfe beim Ausstieg aus der Obdachlosigkeit.

Das dürfte unbestritten sein, zweifelhaft ist hingegen, ob alle diesen Ausstieg in wenigen Wochen schaffen - selbst mit Beratung.

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