• Berlin
  • Krankenhäuser und Corona

Beifall vom Balkon reicht nicht

Beschäftigte der Krankenhäuser wenden sich an zuständige Ministerin und Senatorin

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 3 Min.

Es ist ein Gedankenexperiment, zu dem Heiko Piekorz von der Asklepios-Psychiatrieklinik Lübben eingeladen hat. Er nimmt Brandenburgs Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) mit zu einem Nachtdienst auf einer Station mit 24 Patienten: Verwirrte schreien um Hilfe, Suizidgefährdete müssen im Blick behalten werden, ein Inkontinenter benötigt eine frische Windel ... Der Krankenpfleger ist allein mit diesen Aufgaben. Völlig überlastet grübelt er nach seiner Schicht, ob er allen Patienten ihre Tabletten gegeben und bei der Dienstübergabe nicht vergessen hat, seinen Kollegen etwas Wichtiges zu sagen. Piekorz möchte der Ministerin den Personalmangel im Gesundheitswesen vor Augen führen. Das hat er bereits bei früheren Begegnungen gesagt. »Es ist nichts besser geworden, aber einiges schlechter«, beklagt er.

Am Montagabend unterhält sich Nonnemacher auf Einladung der Gewerkschaft Verdi bei einer Videokonferenz eine Stunde lang mit Krankenschwestern und Betriebsräten. Bei der Gelegenheit werden symbolisch 3500 Unterschriften übergeben. Beschäftigte der Krankenhäuser fordern Sicherheit und die Anerkennung ihrer Arbeit. Klatschen auf dem Balkon reicht ihnen dafür nicht aus.

In Berlin gibt es eine vergleichbare Bestrebung. Diesen Mittwoch um 11 Uhr wollen Beschäftigte des Universitätsklinikums Charité und der landeseigenen Vivantes-Kliniken am Roten Rathaus tausende Briefe an Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) übergeben. »Es geht im Wesentlichen um mehr Schutz, Schutzausrüstung und Desinfektionsmittel«, erläutert Gewerkschaftssekretär Marco Pavlik.

Brandenburgs Gesundheitsministerin Nonnemacher benötigt keine besondere Vorstellungskraft, um Heiko Piekorz folgen zu können. 26 Jahre hat sie als Ärztin im Krankenhaus gearbeitet. Ihr Mann tut es heute noch. »Sie rennen da bei mir offene Türen ein«, versichert die Ministerin. Sie hofft, dass Bundespolitik und Gesellschaft endlich einsehen, »wie wichtig unsere Krankenhäuser sind«. Mit einer gesetzlichen Personaluntergrenze tut sie sich dennoch schwer. Denn was würde das bedeuten für Kliniken, die kein zusätzliches Personal finden? Die müssten dann geschlossen werden. Das gehe doch nicht.

Wenn anständig bezahlt würde und weniger Stress wäre, gäbe ein keinen Mangel, glauben ihre Gesprächspartner. Denn in Deutschland haben sich 220 000 Krankenschwestern und -pfleger wegen schlechter Bezahlung und hoher Arbeitsbelastung andere Jobs gesucht. Diese wäre bereit, bei besseren Bedingungen zurückzukehren. Doch von 52 Krankenhäusern in Brandenburg, darunter 22 kommunale, zahlen nur zwei den Tarif des öffentlichen Dienstes - das Städtische Klinikum Brandenburg/Havel und ganz neu das Ernst-von-Bergmann-Klinikum Potsdam. Sonst lässt die Bezahlung zu wünschen übrig. Einige Mitarbeiter der Fahrdienste oder der Labore erhalten gerade einmal ein paar Cent mehr als den gesetzlichen Mindestlohn.

Nonnemacher bedauert, sie könne Tariflöhne nicht anordnen. In Potsdam habe das Stadtparlament entschieden. Die Belegschaften müssten sich in der Gewerkschaft organisieren und Betriebsräte wählen, regt Referatsleiter Michael Zaske an, der neben Nonnemacher sitzt.

Andreas Kutsche vom Städtischen Klinikum Brandenburg/Havel nennt die in der Coronakrise herabgesetzten Standards für die Schutzausrüstung einen »Riesenskandal und eine Zumutung«. So sollten Einweg-Masken wegen Lieferschwierigkeiten mehrfach verwendet werden, obwohl sie dann fast zwecklos sind.

Nonnemacher erklärt, die Materialbeschaffung sei Aufgabe der Kliniken. Das Land sei angesichts der Engpässe eingesprungen und habe für

20 Millionen Euro eingekauft und die Produkte gratis verteilt. Im Juni solle diese Hilfe auslaufen, ergänzt Zaske. Dann könnten die Kliniken beim Zentraldienst der Polizei bestellen. Das Land wolle einen Vorrat für vier Monate anlegen, um für eine zweite Welle von Corona-Infektionen gewappnet zu sein.

Die erste Welle ebbt ab. Am Montagnachmittag hob das Gesundheitsamt der Stadt Potsdam den Aufnahmestopp für das Bergmann-Klinikum auf. Dort hatte das Virus schlimm gewütet. Eine Expertenkommission unter Leitung von Ex-Gesundheitsministerin Anita Tack (Linke) soll die Ursachen aufklären.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.