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Im Angesicht der Katastrophe
Corona hat die geflüchteten Rohingya in Bangladesch erreicht, ungeschützt im größten Flüchtlingslager der Welt
Lange galt es als tickende Zeitbombe - jetzt sind die Warnungen wahr geworden. In Kutupalong, dem extrem dicht besiedelten Flüchtlingslager in Bangladesch, dem größten der Welt, haben sich mindestens 13 Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Die tödliche Lungenkrankheit könnte in der provisorischen Großstadt aus Bambushütten und Plastikplanen zur Katastrophe in der Katastrophe führen. Enge, schlechte medizinische Versorgung, erbärmliche hygienische Bedingungen, der Monsun und Fake News könnten dazu führen, dass in den Lagern Tausende sterben.
»Die Nachricht, dass die ersten Menschen im Lager Corona haben, hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Wenn sich noch mehr anstecken, bricht hier Panik aus«, befürchtet Emam Hosen. Der 62-Jährige steht mit seiner Frau Gul Bahar und dem jüngsten Sohn Hosen Rashid vor einer windschiefen Bambushütte im Flüchtlingslager Kutupalong. Seitdem er im August 2017 mit Hunderttausenden weiteren Rohingya vor Massakern an der muslimischen Minderheit aus dem buddhistischen Myanmar floh, lebt er mit seiner Frau und seinem jüngsten von fünf Kindern in der rund drei mal drei Meter großen Hütte. Im Vergleich zu den meisten anderen Menschen im überfüllten Flüchtlingslager haben sie es damit noch gut getroffen. Teilweise hausen in Kutupalong bis zu dreimal so viele Menschen in einer vergleichbaren Hütte.
Covid-19 sorgt für Angst
Laut Manish Agrawal, Landesdirektor der Hilfsorganisation International Rescue Committee in Bangladesch, leben in dem aus 34 Camps bestehenden Flüchtlingslager etwa 40 000 bis 70 000 Menschen - pro Quadratkilometer. »Die Bevölkerungsdichte ist damit mindestens 1,6-mal höher als an Bord des Kreuzfahrtschiffes Diamond Princess. Und an Bord des Schiffes breitete sich die Krankheit viermal schneller aus als in Wuhan zum Höhepunkt der Krise«, sagte der humanitäre Helfer der Nachrichtenagentur Reuters.
Auch Amdadul Haque, der als Ingenieur im Dienste der Welthungerhilfe die Wasser- und Sanitärversorgung im Lager verbessert, befürchtet: »Sollte die Krankheit sich weiter ausbreiten, könnten in den Flüchtlingslagern Tausende sterben.«
Emam Hosen und seine Familie könnten dazugehören. Zusammen mit rund 80 Lagerbewohnern teilen die drei Familienmitglieder sich vier Latrinen. Vor allem am Morgen bilden sich vor den einfachen Plumpsklos lange Schlangen. Noch größeres Gedränge herrscht, wenn die Flüchtlinge, denen es in Bangladesch untersagt ist zu arbeiten, bei der Verteilung von Lebensmitteln und Hygieneartikeln anstehen.
»Natürlich wissen meine Familie und ich, wie gefährlich das Virus ist und dass es sich rasend schnell verbreiten kann. Aber es ist hier nicht möglich, sich aus dem Weg zu gehen. Es ist einfach viel zu voll«, sagt Emam Hosen. In manchen Teilen des Lagers ist zudem das Wasser rationiert. Viele Campbewohner haben nur Anspruch auf zehn Liter Wasser pro Person und Tag. Zum regelmäßigen Händewaschen ist das oft nicht ausreichend.
Der Ausbruch der Lungenkrankheit macht Emam Hosen und seiner Familie Angst. Sie erwägen jetzt sogar, nach Myanmar zurückzukehren. »Vor fast drei Jahren kam die Armee in unser Dorf und brannte die Häuser nieder. Frauen wurden vergewaltigt und Kinder, Frauen und Männer ermordet. Darum sind wir weggerannt«, erinnert sich Emam Hosens Frau Gul Bahar an ihre Flucht.
Zwar hatte Myanmars faktische Regierungschefin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi im vergangenen Dezember vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag behauptet, dass es in ihrem Land keine gezielte Gewalt gegen die Rohingya gegeben habe. Doch die Aussagen von Gul Bahar sowie Tausender weiterer geflüchteter Rohingya und unabhängige Untersuchungen von Menschenrechtsorganisationen sprechen von Gewalt, Mord und Vertreibung. Laut den Vereinten Nationen sind die Rohingya die am meisten verfolgte Volksgruppe der Welt.
Rückkehr in die unsichere Heimat?
Im Völkermordverfahren gegen Myanmar hat der Internationale Gerichtshof Bangladeschs Nachbarland deshalb im März zu Sofortmaßnahmen zum Schutz der Rohingya verpflichtet. Doch viele der Geflüchteten glauben nicht daran, dass die Regierung nun plötzlich für ihre Sicherheit sorgen wird. Seit allerdings das Coronavirus auch im Flüchtlingslager ihr Leben bedroht, denken viele Flüchtlinge über eine Rückkehr in die unsichere Heimat nach. »Zu Hause haben wir zumindest nicht so dicht gedrängt zusammengelebt. Dort könnten wir uns besser vor der Krankheit schützen«, sagt Emam Hosen.
Der Mann, der vor seiner Flucht aus Myanmar als Apotheker gearbeitet hat, weiß, dass ein größerer Corona-Ausbruch in den Flüchtlingslagern katastrophale Folgen haben könnte. Auch wenn die Regierung jetzt mithilfe der Vereinten Nationen und Hilfsorganisationen fieberhaft weitere Behandlungs- und Isolationszentren einrichtet, ist der am dichtesten besiedelte Flächenstaat der Welt extrem schlecht auf die Covid-19-Pandemie vorbereitet. Nach Schätzungen gibt es im 160-Millionen-Einwohner-Land gerade mal 2000 Intensivbetten, kein einziges davon steht im größten Flüchtlingslager der Welt. Doch die fehlenden Beatmungsbetten sind nicht das einzige Problem: Schutzausrüstung, Testkits, medizinisches Personal - es fehlt an allem.
Nach Angaben der US-amerikanischen Johns-Hopkins-Universität haben sich in Bangladesch bereits 35 585 Menschen nachweislich mit dem Virus infiziert, 501 starben infolge der Lungenkrankheit. Da es jedoch nur eingeschränkte Testmöglichkeiten gibt, dürfte die Dunkelziffer sehr hoch sein. In den Flüchtlingslagern könnte die Sterberate zudem deutlich höher ausfallen. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen warnt, dass viele Rohingya nach jahrzehntelanger Verfolgung und der Verwehrung medizinischer Versorgung in einem schlechten Gesundheitszustand seien. Viele litten schon jetzt unter teils chronischen Atemwegserkrankungen und hätten in ihrer Heimat keinerlei Impfungen erhalten.
Doch das Virus ist nicht die einzige Gefahr. Da die meisten Menschen im Lager nur eingeschränkten Zugang zu seriösen Informationen haben, kursieren viele Gerüchte und Falschmeldungen, also Fake News. Ärzte ohne Grenzen berichtet, viele Rohingya glaubten, dass sie bei einer Diagnose als Infizierte von ihren Familien getrennt und getötet würden. Diese Angst halte sie davon ab, überlebenswichtige Behandlungen wahrzunehmen.
Aufklärung über das Virus
Zudem preisen traditionelle Heiler und skrupellose Geschäftemacher teure, aber gegen das Coronavirus völlig wirkungslose Tinkturen und Tabletten an. In den zahlreichen trotz Versammlungsverbots oft gut besuchten Moscheen des Flüchtlingslagers predigen viele Imame, dass fromme Muslime gegen die heimtückische Krankheit gefeit seien. »Unsere Mitarbeiter kämpfen darum auch mit Aufklärungsmaßnahmen gegen das Virus«, sagt Welthungerhilfe-Mitarbeiter Amdadul Haque. Doch dies wird immer schwieriger. »Reisebeschränkungen und Versorgungsengpässe erschweren unsere Arbeit. Zudem haben auch unsere Mitarbeiter Angst, sich anzustecken. Aber wir wissen, dass wir gerade jetzt gebraucht werden«, so Amdadul Haque.
Gegen eine weitere Gefahr, die die Lage in den Flüchtlingslagern zur größten denkbaren Katastrophe machen könnte, sind Amdadul Haque, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen und die rund 100 im Lager tätigen Hilfsorganisationen hingegen weitestgehend machtlos: Naturkatastrophen. In der vergangenen Woche hatte Zyklon Amphan, einer der schlimmsten Stürme der vergangenen 20 Jahre in der Region, die Flüchtlingslager zwar weitestgehend verschont, doch er kostete in Indien und Bangladesch rund 100 Menschen das Leben. Mehr als drei Millionen Menschen hatten sich in Notunterkünfte geflüchtet. Vor allem in der Monsunsaison von Juni bis September könnten auch die Flüchtlingslager von verheerenden Stürmen heimgesucht werden. Wenn Tausende Menschen dann in solideren Notunterkünften Schutz suchen, könnte dies zu einer weiteren Ausbreitung des Virus führen.
Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) kündigte deshalb vor zwei Wochen an, die deutschen Zusagen für die Flüchtlingslager in Bangladesch von 15 Millionen auf 25 Millionen Euro zu erhöhen. »Die Enge und Hygienebedingungen der 850 000 Menschen in den Flüchtlingslagern sind erschütternd. Ein Corona-Ausbruch hat hier verheerende Folgen«, so der Minister, der die Lager im Februar besuchte.
Emam Hosen und seine Familie wollen sich nicht auf die angekündigten deutschen Hilfen verlassen. Sie überlegen stattdessen, erneut zu fliehen. Diesmal brennt der Feind keine Häuser nieder und hat keine Gewehre. Diesmal ist er unsichtbar. Gefährlich ist er trotzdem.
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